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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Gerichtsstand

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Gerichtsstand.

Gerichtsstand (lat. Forum), das Rechtsverhältnis, vermöge dessen eine Person berechtigt und verpflichtet ist, vor einem bestimmten Gericht Recht zu nehmen; auch das Gericht selbst, welches für die betreffende Person zuständig ist. Die Zuständigkeit (Kompetenz) eines Gerichts ist im allgemeinen durch die Gerichtsorganisation und durch die räumliche Abgrenzung der Gerichtsbezirke bestimmt (s. Gericht). Im einzelnen Fall entspricht die Zuständigkeit des Gerichts dem G., d. h. das Recht und die Pflicht des Gerichts, eine Rechtssache zu verhandeln und zu entscheiden, entspricht dem Recht und der Pflicht der beteiligten Personen, vor ebendiesem G. Recht zu nehmen. Dabei ist aber zwischen bürgerlichen Privatrechtsstreitigkeiten und strafrechtlichen Untersuchungssachen zu unterscheiden.

I. Bürgerliche Rechtsstreitigkeiten. Die Zuständigkeit des Gerichts bestimmt sich durch den G. des Beklagten. Derjenige, welcher als Kläger einen Rechtsanspruch gegen einen andern als Beklagten verfolgen will, muß sich an dasjenige Gericht wenden, bei welchem der Beklagte seinen G. hat. Der Kläger folgt dem G. des Beklagten (actor sequitur forum rei). Es kann jedoch auch durch Vereinbarung der Parteien in einem einzelnen Fall ein G. begründet werden (gewillkürter G., Forum prorogatum, im Gegensatz zu dem Forum legale, dem durch das Gesetz begründeten G.). Nach der deutschen Zivilprozeßordnung ist eine solche Vereinbarung zulässig, wenn es sich um eine vermögensrechtliche Klage handelt, für welche kein ausschließlicher G. begründet ist. Auch wird ein an und für sich unzuständiges Gericht dadurch zuständig, daß der Beklagte mündlich zur Hauptsache verhandelt, ohne die Unzuständigkeit des Gerichts zu rügen. Im übrigen ist bezüglich des gesetzlichen Gerichtsstandes folgende Unterscheidung zu machen:

A. Allgemeiner G. (Forum generale), derjenige G., welcher für alle Rechtsstreitigkeiten einer Person, wenn sie verklagt werden soll, begründet, sofern nicht für gewisse Rechtsstreitigkeiten ein besonderer G. geordnet ist. Nach der deutschen Zivilprozeßordnung ist der G. des Wohnorts (Forum domicilii) der allgemeine G. Will ich einen Schuldner verklagen, so muß ich mich an das Amtsgericht oder an das Landgericht seines Wohnorts wenden, je nachdem die Sache in die amtsgerichtliche oder in die landgerichtliche Zuständigkeit fällt. Für solche Personen, welche keinen Wohnsitz haben, tritt der Aufenthaltsort im Deutschen Reich an die Stelle des Domizils. Ist auch ein solcher nicht bekannt, so ist der letzte frühere Wohnsitz maßgebend. Für vermögensrechtliche Klagen gegen Personen, die einen längern Aufenthalt an einem Ort genommen haben, wie Dienstboten, Fabrikarbeiter, Studierende, Schüler oder Lehrlinge, ist ebenfalls der G. des Aufenthaltsorts entscheidend. Für Klagen aus Geschäften, welche unmittelbar von einer zum Betrieb einer Fabrik oder eines andern Gewerbes bestimmten Niederlassung geschlossen sind, oder die den landwirtschaftlichen Betrieb eines Gutes betreffen, besteht ein allgemeiner G. der gewerblichen Niederlassung oder des betreffenden Landgutes.

B. Besondere Gerichtsstände (Fora specialia): 1) Der G. der gelegenen Sache (Forum rei sitae), bei welchem dingliche Klagen, welche eine unbewegliche Sache (Grundstück) betreffen, angestellt werden müssen, aber auch gewisse persönliche Klagen, die sich auf das Grundstück beziehen, erhoben werden können. 2) G. der Erfüllung oder des geschlossenen Vertrags (Forum solutionis oder contractus) für Klagen auf Erfüllung oder Feststellung einer Obligation oder auf Vertragsaufhebung oder auf Entschädigung wegen Nichterfüllung oder nicht gehöriger Erfüllung, welche bei dem Gericht des Erfüllungsorts anzubringen sind. 3) Der G. des Meß- oder Marktortes für Klagen aus Handelsgeschäften, welche auf Messen oder Märkten abgeschlossen wurden, insofern sich der Beklagte zur Zeit der Klagerhebung an dem Meß- oder Marktort oder in dem Gerichtsbezirk dieses Ortes aufhält. 4) Der G. der Erbschaft, d. h. der allgemeine G. des Erblassers zur Zeit seines Todes, für Nachlaßstreitigkeiten. 5) Der G. der Verwaltung (Forum gestae administrationis) für Klagen aus einer Vermögensverwaltung am Orte derselben. 6) Der G. der unerlaubten Handlung (Forum delicti commissi) für die Entschädigungsklagen wegen einer unerlaubten Handlung am Orte der That. 7) Der G. des gelegenen Vermögens, entsprechend dem frühern Forum arresti (G. des Arrestes). Ein solcher ist dann begründet, wenn der Beklagte im Deutschen Reich keinen Wohnsitz hat, aber innerhalb des betreffenden Gerichtsbezirks Vermögen besitzt. 8) G. des Zusammenhanges (Forum connexitatis), gegründet auf den Zusammenhang einer Klage, besonders einer Widerklage (s. d.), mit einem schwebenden Prozeß.

II. Strafsachen. Im Strafprozeß bildet den G. dasjenige Gericht, vor welchem der Beschuldigte sich verantworten muß. Umgekehrt hat derselbe auch das Recht, sich nur vor dem verfassungsmäßig zuständigen Gericht zu stellen. Der Grundsatz, daß niemand seinem gesetzlichen (ordentlichen) Richter entzogen werden soll, ist ein Grundgesetz des modernen Verfassungsstaats. Unter mehreren zuständigen Gerichten entscheidet die Prävention, d. h. dasjenige Gericht geht vor, welches zuerst die Untersuchung eröffnete. Der G. ist entweder ein ordentlicher oder ein außerordentlicher, insofern er für den gegebenen Fall durch die Gerichtsverfassung bestimmt oder durch eine besondere Anordnung begründet ist. Letzteres kann aber nach der deutschen Strafprozeßordnung nur dann geschehen, wenn ein ordentlicher G. nicht vorhanden ist, in welchem Fall das Reichsgericht den G. bestimmt; ferner, wenn das verfassungsmäßig zuständige Gericht verhindert ist, z. B. durch Ablehnung der Mitglieder dieses Gerichts, und endlich auch dann, wenn im Revisionsweg das Urteil des zuständigen Gerichts aufgehoben wird. In diesem Fall besitzt der Revisionshof die Befugnis, die Sache zur anderweiten Verhandlung an ein gleichstehendes benachbartes Gericht desselben Bundesstaats zu verweisen. Außerdem wird bezüglich des ordentlichen Gerichtsstandes zwischen gemeinem und privilegiertem (befreitem, besonderm, exemtem) G. unterschieden, je nachdem er durch allgemeine Rechtsvorschrift oder durch Spezialgesetz für gewisse Personen oder Sachen eingesetzt ist. In dieser Hinsicht ist hervorzuheben, daß Reichsverratssachen in erster und letzter Instanz vor das Reichsgericht gehören. Auch haben die Mitglieder der landesherrlichen Familien und die Militärpersonen einen privilegierten G. (s. Militärgerichtsbarkeit). Ordentliche gemeine Gerichtsstände sind folgende: 1) Der G. des Ortes der That (Forum delicti commissi, le juge du lieu du délit), das Gericht, in dessen Sprengel der Ort liegt, wo die That begangen ist. Mit diesem regelmäßigen G. konkurriert nach der deutschen Strafprozeßordnung wahlweise 2) der G. des Wohnsitzes des Beschuldigten (Forum domicilii). Fehlt es innerhalb des Deutschen Reichs an einem solchen Wohnsitz, so tritt der Aufenthaltsort des Beschuldigten an die Stelle des Domizils. 3) Der G.