Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Gesangbuch

200

Gesangbuch.

zierungen und Koloraturen, welche den fränkischen Sängern gar nicht glücken wollten. Karl d. Gr. sandte daher wiederholt Sänger zur Ausbildung nach Rom und ließ sich Gesanglehrer vom Papst schicken; so wurden zu St. Gallen und Metz die ersten Sängerschulen nach römischem Muster errichtet. Die Zahl der Sängerschulen wuchs später außerordentlich, und schließlich war mit jeder Kirche, die einen Sängerchor unterhielt, eine Gesangschule verbunden. Die Ausführung der Gesänge der Blütezeit des Kontrapunktes erforderte so viele Kenntnisse von den Sängern, daß eine Reihe von Jahren erforderlich war, sie zu erlernen, d. h. Knaben mutierten, ehe sie ordentlich mitsingen konnten. So kam es, daß die Knaben aus den Chören bald ganz verschwanden und entweder Falsettisten (tenorini) oder Kastraten an ihre Stelle traten; den Gesang der Frauen verbot die Kirche. Noch mehr Kunstfertigkeit hatten die Sänger zu zeigen Gelegenheit beim sogen. Contrapunto alla mente (Chant sur le livre, extemporierter Kontrapunkt über einen Tenor des Chorals), der sich vom 13. bis ins 16. Jahrh. hielt; da ergingen sie sich in Läufen, Trillern etc. nach Herzenslust. Die Sänger der päpstlichen Kapelle wie die der Hofkapellen in Wien, Paris, London etc. waren aber zugleich die bedeutendsten Komponisten ihrer Zeit und daher wohl imstande, einen guten Kontrapunkt zu improvisieren. Die Oper bot den sangeslustigen Italienern ein neues Feld, und da mit der Einführung des neuen Stils die alten Mensurbestimmungen der vereinfachten heutigen Notierungsweise Platz machten, so war Sänger sein nicht mehr so schwer wie vordem. Die eigentliche Blüte der Gesangsvirtuosität datiert daher seit der ersten Blüte der italienischen Oper (Mitte des 17. Jahrh.).

Die älteste Anleitung zum Singen ist die Vorrede Caccinis zu seinen "Nuove musiche" (1602); die trilli, gruppi und giri spielen darin bereits eine große Rolle. Ein noch heute in hohem Ansehen stehendes Werk sind Tosis "Opinioni de' cantori antichi e moderni" (1723; deutsch von Agricola, 1757). Wie der virtuose G. selbst, so fand nun auch die Schulung für denselben ihre Stätte außerhalb der Kirche, und es waren teils berühmte Sänger selbst, teils berühmte Opernkomponisten, welche Gesangschulen errichteten. Solche Schulen waren die des Pistocchi zu Bologna (fortgesetzt durch seinen Schüler Bernacchi, die berühmteste von allen), die des Porpora (der zu Venedig, Wien, Dresden, London und zuletzt in Neapel lebte und lehrte), die von Leo, Feo (Neapel), Beli (Mailand), Tosi (London), Mancini (Wien) etc. Besonders hervorragende Sänger des vorigen Jahrhunderts waren die Kastraten: Ferri, Pasi, Senesino, Cusanino, Nicolini, Farinelli, Gizziello, Caffarelli, Salimbeni, Momoletto; die Tenoristen: Raaff, Paita, Rauzzini; unter den Sängerinnen ragen hervor: Faustina Hasse, die Cuzzoni, Strada, Agujari, Todi, Mara, Korona Schröter, M. Pirker, Mingotti. In unserm Jahrhundert wird zwar über den Verfall des bel canto geklagt, doch hat derselbe eine Reihe ausgezeichneter Lehrmeister zu verzeichnen, welche die Traditionen der alten italienischen Schule weiter vererbten oder noch vererben, wie: Aprile, Minoja, Vaccaj, Bordogni, Ronconi, Concone, Pastou, Panseron, Duprez, Frau Marchesi, Lamperti, Panofka. Von deutschen Gesanglehrern der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart sind hervorzuheben: Hauser, Engel, Götze, Schimon, Stockhausen, Sieber, Hey etc. Aus der großen Reihe berühmter Sänger und Sängerinnen unsers Jahrhunderts seien nur noch genannt die Sängerinnen: Catalani, Schröder-Devrient, Sontag, Milder-Hauptmann, Lind, Ungher-Sabatier, Pisaroni, Alboni, Zerr, Viardot-Garcia, Malibran, Pasta, Nau, Nissen-Saloman, Tietjens, Persiani, Artôt, Patti (Adelina und Carlotta), Trebelli, Cruvelli, Nilsson, Mombelli, Lucca, Mallinger, Peschka-Leutner, Wilt, Materna, Saurel, Gerster, Thursby, Am. Joachim, Sachse-Hofmeister, Herm. Spies etc.; der Sopranist Velluti (der letzte Kastrat, noch 1825 bis 1826 in London); die Tenoristen: Tacchinardi, Crivelli, Ponchard, Braham, Franz Wild, Audran, Reeves, Rubini, Duprez, Nourrit, Tamberlick, Schnorr v. Carolsfeld, Tichatschek, Roger, Martini, Mario, Capoul, Achard, Vogl, Niemann, Wachtel, Götze; die Baritonisten: Pischek, Marchesi, Kindermann, J. H. ^[wohl Johann Nepomuk] Beck, Betz, Mitterwurzer, Stägemann, Stockhausen, Faure, Gura, Lißmann und die Bassisten: Agnesi, Battaille, L. Fischer, Lablache, Tamburini, Staudigl, Levasseur, Bletzacher, Scaria, Krolop. Von Schulwerken für das Studium des Gesanges sind besonders die von Panofka, Panseron, Marchesi, Sieber, Hauser, Hey-Stockhausen zu empfehlen unter Zuhilfenahme der Solfeggien und Vokalisen von Vaccaj, Concone, Bordogni etc. Vgl. Stimmbildung.

Gesangbuch, im allgemeinen eine Sammlung von Gedichten zum Singen; insonderheit eine Sammlung religiöser Lieder (Kirchenlieder) behufs des Gesanges beim Gottesdienst, wie er vorzüglich seit der Reformation eingeführt ist. Die Hussiten führten den Gemeindegesang ein, und ihr G. ist 1531 vom Pfarrer Michael Weiß ins Deutsche übertragen worden. Nur wenige dieser Gesänge sind in spätere Gesangbücher übergegangen (darunter "Nun laßt uns den Leib begraben"). Als der eigentliche Gründer des deutschen Kirchenliedes ist Luther anzusehen, welcher 1523 sein erstes Kirchenlied: "Nun freut euch, liebe Christengemein'", dichtete und bald eine Sammlung geistlicher Lieder veranstaltete, welche in der ersten Auflage von 1524 nur aus acht Liedern (darunter vier von Luther, drei von Speratus) bestand, in der zweiten ("Geistliches Gesangbüchlein", 1524) aber schon 24 und zwar eigne Lieder mit vierstimmigen Melodien brachte. Die spätern Ausgaben bestehen aus einer immer wachsenden Anzahl von Liedern sowohl Luthers als auch einiger seiner Freunde. Die letzte Ausgabe: "Geistliche Lieder", besorgte 1545 der Buchdrucker Valentin Babst zu Leipzig. In derselben finden sich von Luther selbst 37 Lieder. In den evangelisch-lutherischen Kirchen war dieses G. lange Zeit im Gebrauch, und auch als die Zahl der Liederdichter sich im 16. wie im 17. Jahrh. mehrte, hielt man sich in den Kirchen hauptsächlich noch an Luthers Gesänge, welche Gemeingut des Volkes geworden waren. Da man sich aber mit der Zeit hier und da Abänderungen erlaubte, so wurde um des gemeinschaftlichen Kirchengesangs willen die Einführung bestimmter Gesangbücher notwendig, womit denn auch gegen Ende des 17. Jahrh. einzelne Behörden vorgingen. Der dänische Etatsrat Moser, ein Freund der Hymnologie, besaß schon 1751 eine Sammlung von 250 verschiedenen Gesangbüchern und ein Register von über 50,000 Liedern. Eine neue Periode für die Gesangbücher begann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrh. mit dem Auftreten Gellerts, der 1757 seine "Geistlichen Oden und Lieder" herausgab, und Klopstocks, der 1758 eine Umarbeitung von 19 alten Kirchenliedern im Geiste der Zeit unternahm. Das erste G., worin diese neuen Dichter vorwiegend vertreten waren, war das von Chr. F. Weiße und Zollikofer herausgegebene G. der reformierten Gemeinde in Leipzig, deren Beispiel 1767 die reformierten Gemeinden zu Bremen und Lüneburg, 1773