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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Gift

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Gift.

die Gifte viele Seiten hindurch nur dieser Definition widmet und am Schluß dennoch die Unmöglichkeit einer präzisen Formulierung zugestehen muß. Wird man gewöhnlich nicht leicht in Zweifel geraten, ob man einen gegebenen Stoff, der, wie das Cyankalium, Opium, Arsenik, das Strychnin, in Bruchteilen eines Grammes schädlich wirkt, für ein G. halten soll, so kann es doch zweifelhaft werden, ob man bittere Mandeln, chlorsaures Kali oder gar das Kochsalz hierher rechnen will, die allesamt, in größern Mengen genossen, zweifellos schädlich oder tödlich werden können. Handelt es sich um eine gerichtliche Untersuchung, so wird der Sachverständige zu entscheiden haben, ob die fragliche Substanz geeignet ist, in der beigebrachten Menge Leben und Gesundheit zu schädigen; dagegen ist es Sache des Richters, zu entscheiden, ob der Stoff als G., die Darreichung also als Vergiftung zu beurteilen ist. Wenn z. B. jemand kleine Glassplitter unter eine Speise mischt in der Erwartung, einen andern durch den Genuß derselben zu töten, oder wenn jemand einem andern geschmolzenes Metall in den Mund schüttet, so ist zwar keiner dieser Stoffe ein G. im gewöhnlichen Sinn, der Sachverständige kann sich demnach nur über die Schädlichkeit der Substanzen für Leben und Gesundheit äußern, während der Richter zu entscheiden hat, ob Vergiftung vorliegt. Ist der schädliche Stoff Produkt einer Krankheit, welches in den damit in Berührung kommenden Einzelwesen dieselbe Krankheit erzeugen kann, so pflegt man denselben nicht als G., sondern als Ansteckungsstoff oder Kontagium zu bezeichnen. Auch Arzneien und Gifte stehen einander sehr nahe; beide sind sogar häufig in stofflicher Beziehung identisch, und nur die verhältnismäßige Größe der Gabe macht den betreffenden Stoff zum G. oder zur Arznei.

Um über die große Zahl der Gifte einen Überblick zu gewinnen, hat man dieselben in mehrere Klassen eingeteilt. So unterscheidet Orfila z. B. rein-narkotische, reizend-narkotische, reizende (teils ätzende, teils adstringierende) und septische (faulige) Gifte. Die narkotischen Gifte bewirken Betäubung, Schlafsucht, Lähmung und Schlagfluß. Zu den rein-betäubenden Giften rechnet man Blausäure, Bittermandelöl, Kirschlorbeer, Bilsenkraut, Giftlattich, die Blätter des Eibenbaums, Mohn, Opium und die darin enthaltenen Alkaloide. Die reizend-narkotischen Gifte unterscheiden sich von den erstern dadurch, daß sie außer der betäubenden Wirkung in denjenigen Teilen, mit welchen sie in Berührung kommen, Reizung und Entzündung hervorrufen. Zu den scharf-narkotischen Giften gehören nach Orfila: Kohlensäure, Kohlenoxyd, leichtes und schweres Kohlenwasserstoffgas, Phosphor- und Arsenwasserstoff, der Taumellolch und das Mutterkorn, Alkohole, Äther, Chloroform und viele Giftschwämme, die Kockelskörner, der Kampfer, die sogen. Pfeilgifte, das Curare, die Brechnuß und die darin enthaltenen Alkaloide, Strychnin und Brucin, die Alkaloide der Colchicum-, Helleborus- und Veratrum-Arten u. die dazu gehörigen Pflanzen selbst, das Aconitin, Atropin und Daturin, Nikotin, Coniin und Digitalin, die Meerzwiebel, der Sturmhut, die Tollkirsche, der Stechapfel, der Tabak, die Schierlingsarten, der Fingerhut etc. Die reizenden Gifte zeichnen sich dadurch aus, daß sie in den Organen, mit denen sie in Berührung kommen, Reizung, Entzündung und deren Folgen, ja auch Anätzung und Zerstörung der organischen Substanz veranlassen; im letztern Fall nennt man sie ätzende Gifte und betrachtet sie als eine besondere Unterabteilung der reizenden. Die zusammenziehenden, adstringierenden, Gifte sind ihrer Hauptwirkung nach nichts als reizende, und man kann sie ebenfalls als eine besondere Unterabteilung dieser Klasse betrachten. Zu den reizenden Giften gehören: Phosphor, Jod, konzentrierte Säuren, Chlor, ätzende Alkalien, Baryt, viele Salze von Quecksilber, Arsen, Antimon, Kupfer, Zinn, Zink, Silber, Blei, Chrom, Osmium etc.; aus dem Pflanzenreich: Zaunrübe, Elaterium, Jalappe, Koloquinten, Gummigutt, Seidelbast, Rizinus, Wolfsmilch, Sadebaum, Sumach, Küchenschelle, Schöllkraut, Ranunkel etc.; aus dem Tierreich: Spanische Fliegen, Muschelgift, Fischgift. Will man auch die Ansteckungsstoffe hierher rechnen, so muß man unterscheiden zwischen der lebenden, vermehrungsfähigen, organischen Materie (Bakterien), welche zersetzend auf das Blut einwirkt, und zwischen gewissen chemischen Produkten, welche durch den Lebensprozeß der Bakterien entstehen u. ebenfalls für sich allein giftig wirken (Ptomaine). Gewöhnlich sind beide, die Pilze und ihre Spaltungsprodukte, zusammen vorhanden, wie z. B. bei dem sogen. Leichengift, dem Wundgift, dem G. phagedänischer Geschwüre etc. (vgl. Infektionskrankheiten). Die Unterscheidung der Gifte nach ihrer Herkunft als mineralische, vegetabilische und tierische, wozu noch die Gase als eine besondere Abteilung kommen, ist eine selbstverständliche. Hinsichtlich ihrer physiologischen Wirkung auf den menschlichen oder tierischen Organismus läßt sich zur Zeit keine Einteilung machen, welche auch nur annähernd auf Vollständigkeit Anspruch machen könnte. Die meisten Gifte wirken lähmend auf die Endausbreitungen der Nerven oder auf die Zentralorgane; durch die Größe der Gabe wird die Wirkung beträchtlich abgeändert, so daß man nicht nur bei jedem einzelnen G. Stadien der Einwirkung zu unterscheiden hat, sondern auch noch bei einem und demselben Stoffe verschiedene Dauer der Stadien kennt, je nachdem die Menge groß oder klein, das Individuum empfänglich oder widerstandsfähig, die Darreichung plötzlich oder langsam ist. Es gibt ein G., welches zuerst oder doch sehr früh das Herz lähmt (Muskarin), es gibt ein solches, welches zuerst die willkürlichen Muskeln lähmt (Curare, Atropin), andre, welche das Atmungszentrum (Blausäure, Arsenik etc.), noch andre, welche das Bewußtsein lähmen (s. Betäubende Mittel). Das Amylnitrit paralysiert fast momentan die Gefäßnerven etc. Trotzdem aber ist es kaum statthaft, von Herzgift, Muskel- oder Gehirngiften zu sprechen, da jede der genannten Substanzen später auch andre Systeme ergreift und den Tod mittelbar immer durch Gehirnlähmung herbeiführt. Die meisten Gifte wirken vom Verdauungskanal (Magen und Darm) aus, andre, wie die Schlangen-, Pfeil-, Hundswut-, Leichengifte, nur bei direktem Eindringen ins Blut.

Durch Einführung von G. in geeigneter Menge und an die geeignete Stelle wird die Vergiftung herbeigeführt. Je nach der Menge des Giftes und der Empfänglichkeit des Individuums sind die Erscheinungen der Vergiftung höchst verschieden; die Schnelligkeit, mit der bei großen Gaben von Blausäure oder Cyankalium der Tod eintritt, beruht auf der sehr raschen Aufnahme dieser Stoffe ins Blut, während Phosphor und andre Substanzen mindestens einige Stunden zur Wirkung bedürfen. Die Erscheinungen der akuten Vergiftung werden hervorgebracht durch einmalige größere Giftmengen; sie sind stürmisch in ihrem Ablauf, beginnen bei reizenden und ätzenden Substanzen mit kratzendem oder schmerzhaft zusammenziehendem Gefühl im Schlunde, Druck in der Herzgrube, es folgen oft frühzeitig Übelkeit und Erbrechen, erst später stellen