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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Glas

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Glas (Geschichte der Glasindustrie).

dem Fall des oströmischen Reichs wanderten aber die Glasmacher aus, und nun begann Venedig, die Mutter der westeuropäischen Glasfabrikation, den hervorragendsten Platz einzunehmen. Die Glasindustrie hatte sich hier seit alter Zeit festgesetzt und entwickelt; wiederholt herangezogene auswärtige Arbeiter importierten neue Kunstzweige (die Byzantiner z. B. die Glasmosaik), und in Venedig selbst wurden verschiedene Gattungen erfunden. Das tiefe und durch Androhung schwerer Strafe behütete Geheimnis, mit welchem die 1289 nach Murano verlegten Fabriken umgeben waren, sicherte auf lange Zeit ein Monopol. - Unter dem Einfluß der Renaissance entwickelte sich eine Glasmacherkunst, welche im 16. und 17. Jahrh. ihre größten, noch heute mustergültigen Meisterwerke in Form und Farbe (Gefäße, Spiegel) schuf. Man behandelte das G. durchgehends nur als weiche, bildsame Masse und erzeugte seine weichen und gerundeten Formen ausschließlich vor der Pfeife und mit der Pinzette. Der biegsame Faden war das Hauptmittel der Ornamentation, Filigranglas und Perlen sind spezifische Produkte Venedigs. Der hohen Blüte folgte hier aber ein schneller Verfall.

Die Römer hatten in allen Teilen des Reichs Glashütten angelegt, aber neben dieser römischen ist an vielen Orten auch eine aus barbarischen Elementen hergeleitete Thätigkeit in der Glasmacherei zu erkennen. Bedeutungsvoll ist, daß im Norden bei Germanen und keltischen Galliern die Wertschätzung des Glases einst bis zur Einmischung seines Begriffs in die religiösen Vorstellungen des Volkes steigen konnte. Die Edda und die deutschen Mythen erzählen von Glasbergen und vom gläsernen Himmel. In Grabstätten sind mehrfach Glasgegenstände gefunden worden, und im frühen Mittelalter bestand in Deutschland schon eine recht entwickelte Glasindustrie, welche in Formgebung und Ornamentation von der byzantinischen und venezianischen abwich. Namentlich im Süden und Westen des Reichs ansässig, konkurrierte sie früh mit dem Ausland, selbst auf venezianischem Markte. Das deutsche G., aus Holzasche dargestellt, war meist grünlich, übertraf aber das venezianische an Härte und Widerstandsfähigkeit. Fensterglas war jedoch selbst zu Luthers Zeiten noch nicht allgemein verbreitet. Das Hohlglas zeigte einfache, wenig schwunghafte Formen, vielleicht, um möglichst ausgedehnte Bemalung zu gestatten. Edelsteinimitationen und gläserne Ringe waren sehr beliebt. Kleine Spiegel, aus im Innern mit einer Metallkomposition überzogenen Glaskugeln geschnitten, wurden im 12. und 13. Jahrh. als Schmuck getragen, und die großen, zuerst mit Blei-, seit dem 14. Jahrh. mit Zinnamalgam belegten Spiegel scheinen eine deutsche Erfindung zu sein. Zu Anfang des 16. Jahrh. wurde in Venedig mit Neid anerkannt, daß ein deutsches und ein flandrisches Haus alle Welt mit Spiegeln versorge. Hier sind von litterarischen Arbeiten auf diesem Gebiet des Theophilus, eines deutschen Mönchs, "Diversarum artium schedulae" aus dem 11. oder 12. Jahrh. und vor allen Agricolas "De re metallica" (1530) zu erwähnen, in welchem zuerst eine Hütte mit Ofen und Utensilien abgebildet ist. Diese Arbeit wurde ergänzt durch Mathesius' "Sarepta oder Bergpostill" (1564), in welcher hessisches Tafelglas und die Glasproduktion am Spessart, in der Pfalz und im Meißnischen erwähnt wird. Im 15. Jahrh. begann auch die böhmische Glasindustrie eine Rolle zu spielen. Das böhmische G., aus sehr reinen Materialien dargestellt, wetteiferte in Farblosigkeit und Glanz mit dem venezianischen. Man verarbeitete es aber in wesentlich abweichender Weise, indem die Steinschleifer, die in Prag seit alter Zeit einen gewerblichen Mittelpunkt gehabt, daraus Formen im reinen Kristallstil zu bilden suchten (böhmischer Kristall). Auch die Tafelglasfabrikation gelangte hier zu hoher Blüte; aus Venedig wurde die Bereitung der Schmelzfarben und die Glasmalerei importiert, und so kam man, wie in Murano, zur Perlenfabrikation, zur Anfertigung falscher Steine etc. Zur Zeit des Verfalles der venezianischen Glasmacherei beherrschte Böhmen den Weltmarkt und behauptete seine Stellung bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, wenn auch unter allmählichem Sinken der Leistungen. Später belegten fast alle Staaten Europas das böhmische G. mit hohem Einfuhrzoll und begünstigten die Einwanderung böhmischer Arbeiter, so daß die Industrie allmählich in Verfall geriet, aus welchem sie sich erst in neuester Zeit wieder erhoben hat. Erwähnenswert ist die Förderung, welche die Glasindustrie in Deutschland durch mehrere Fürsten fand. Der Große Kurfürst errichtete z. B. auf der Pfaueninsel bei Potsdam eine Glashütte, welche unter Kunckels Leitung namentlich durch ihren Goldrubin großen Ruf gewann. Kunckel veröffentlichte eins der bedeutendsten ältern Werke über Glasmacherei, die "Ars vitraria experimentalis" (1689), eine erweiterte Bearbeitung von Neris Rezeptensammlung von 1612 und deren englischer Bearbeitung von Merret, ein Werk, welches bis in unser Jahrhundert hinein der gelehrte Ratgeber des Glasmachers blieb. Das antike G. war Kalknatronglas; im Innern des europäischen Kontinents aber bereitete man ausschließlich Kaliglas aus Pflanzenasche, bis die Begründung der Sodaindustrie (1791) einen völligen Umschwung herbeiführte. Gegenwärtig hat das Natronglas weitaus die größte Bedeutung. Auch Glaubersalz (schwefelsaures Natron) ward schon im 17. Jahrh. angewandt, die ersten Versuche damit in größerm Maßstab führte Laxmann in Sibirien 1764 aus; aber erst durch Baader wurde 1808 ein Verfahren bekannt, nach welchem man gutes Glaubersalzglas darstellen konnte, und nun verbreitete sich die Verwendung des Glaubersalzes in Böhmen und andern Ländern sehr schnell. Um dieselbe Zeit etwa wurde auch die Fabrikation des Bleiglases bei uns eingeführt, dessen Fabrikation zu Anfang des 18. Jahrh. in England bereits schwunghaft betrieben worden war. Übrigens war Bleiglas bereits Neri 1612 bekannt, und in manchen antiken Gläsern findet sich Bleioxyd als wesentlicher Bestandteil. 1806 fabrizierte Utzschneider in Benediktbeuern ein vorzügliches optisches G. Erwähnenswert sind die frühzeitige Darstellung von Walzenglas und die hohe Ausbildung der Strecköfen in Deutschland. Als Heizmaterial benutzte man bei uns ehedem ausschließlich, wie noch jetzt in erheblichem Maß, das Holz, und erst zu Anfang des 19. Jahrh. wandte man sich allmählich der Heizung mit Steinkohle, Braunkohle und Torf zu. Seit 1850 benutzte Fickentscher in Zwickau einen Gasofen mit in abgesondertem Generator erzeugtem Braunkohlengas, und 1856 erhielt Siemens das Patent auf seinen Regenerativgasofen (s. oben, S. 386), der mit desselben Erfinders Wannenofen für kontinuierlichen Betrieb eine neue Ära in der Glasindustrie begründete.

Frankreich besaß schon zu Beginn unsrer Zeitrechnung eigne Glashütten; allein an der Darstellung bessern Glases beteiligte es sich so spät, daß es noch im 18. Jahrh. besseres Fensterglas ausschließlich aus Böhmen und Deutschland beziehen mußte. 1740 wurde von Drolinvaux eine Gesellschaft zur Fabri-^[folgende Seite]