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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Goethe

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Goethe (1771-73).

Wetzlar und Frankfurt.

Ins väterliche Haus nach Frankfurt zurückgekehrt, wurde der junge Doktor, an dessen litterarischen Plänen und Arbeiten der alte Rat G. lebhaften, ja leidenschaftlichen Anteil zu nehmen begann, diesmal weit besser aufgenommen als bei der Heimkehr von Leipzig. Mit einer gewissen Vielgeschäftigkeit und mancherlei Zerstreuungen suchte G. den Schmerz, den er über die Lage der verlassenen Friederike empfand, zu übertäuben; aber fort und fort quälte ihn "die Reue, daß er das edelste Herz verwundet, ohne ihm Heilung geben zu können". Am 28. Aug. 1771 beantragte er seine Zulassung zur Advokatur; im Oktober begann er jene erste Bearbeitung des "Gottfried von Berlichingen mit der eisernen Hand", die erhalten blieb und ein halbes Jahrhundert später gedruckt ward; er selbst bezeichnete sie in einem Briefe vom Dezember 1771 als "ein Skizzo, das zwar mit dem Pinsel auf Leinwand geworfen, an einigen Orten sogar einigermaßen ausgemalt und doch weiter nichts als Skizzo ist".

Ein frisches Aufleben für ihn begann, als er sich im Mai 1772 nach dem Plan des Vaters nach Wetzlar begab und als Praktikant beim Reichskammergericht eintrat. Das altehrwürdige, aber gänzlich verwahrloste und verrottete Gericht unterlag damals der von Kaiser Joseph II. angeregten Visitation und Revision; ein ziemlich lebhafter Verkehr gebildeter junger Männer fand sich in dem kleinen Reichsstädtchen, und G. stand mit seinen litterarischen und poetischen Plänen und Neigungen keineswegs allein. F. W. Gotter, v. Goué, der Hannoveraner Kestner wurden ihm befreundet. In Frankfurt hatte sein Freund J. G. ^[Johann Georg] Schlosser inzwischen die "Frankfurter gelehrten Anzeigen" begründet, an denen G. mit arbeitete, und die ihn in nähere Beziehungen zu litterarischen Kreisen in Gießen und Darmstadt, namentlich zu dem wunderlichen, scharf kritischen, in seiner Weise bedeutenden Merck, brachten. Ernste Gefahr ging für ihn aus einer neu aufflammenden Liebesleidenschaft für Lotte Buff, die Tochter des Deutschamtmanns zu Wetzlar, hervor. Ehe er wußte, daß sie die Verlobte Kestners sei, hatte sich seine Neigung für das anmutige, in Werthers Lotte getreu porträtierte Mädchen derart gesteigert, daß er sich nicht mehr rasch loszureißen vermochte, sondern einen verzweifelten Kampf zwischen Leidenschaft und Pflicht zu bestehen hatte. Schließlich ward G., dem zum ersten- und letztenmal im Leben hier Selbstmordgedanken ernstlich nahetraten, durch Mercks Rat und einen eignen momentanen Entschluß zur Rückkehr nach Frankfurt bestimmt. Der Briefwechsel mit Kestner und seiner Braut erging sich in so leidenschaftlichen Tönen, daß eine gute Anzahl der Briefe geradezu in den Wertherroman herübergenommen werden konnte.

G. ließ sich nunmehr dauernd in der Vaterstadt nieder. Die Advokatur ward ernsthafter betrieben und mit Hilfe des Vaters, welcher sich der lange ersehnten Gelegenheit zur Bethätigung seiner juristischen Kenntnisse freute, und eines geschickten Kanzlisten mit allen Ehren, ja, wie einige neuerdings publizierte Rechtsschriften Goethes zeigen, im steifsten Formalstil der Zeit durchgeführt. Inzwischen aber hatte sich Goethes Leben in Frankfurt sehr heiter und anmutig gestaltet, die Erinnerung an Wetzlar und die aussichtslose Liebe für Lotte warfen nur vorübergehende Schatten in diese Tage. Aus heiterer Geselligkeit, in welcher eine Reihe poetischer Pläne gefaßt und innerlich ausgestaltet wurde, warf sich dann G. in die ernste poetische Arbeit und wagte die ersten Schritte in die Öffentlichkeit. Abgesehen von der kleinen enthusiastischen Schrift "Von deutscher Baukunst D. M. Erwini a Steinbach" (1772), von den Heften: "Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***" und "Zwo wichtige, bisher unerörterte biblische Fragen" (o. O. 1773), vollendete er in den ersten Monaten von 1773 die zweite Bearbeitung des "Götz von Berlichingen" (o. O. 1773; 2. Aufl., Frankf. a. M. 1774), welche im Juni gedruckt erschien. Schon in dem Unterschied der zweiten genialen Bearbeitung von der ersten tritt die spezifische Künstlernatur Goethes zu Tage, die ihn selbst in seiner Sturm- und Drangperiode lebensvolle Einzelheiten dem Interesse des Ganzen opfern ließ. "Götz" war der bedeutendste und von der ganzen Wärme und Frische einer selbständigen jugendlichen Dichterkraft erfüllte Versuch, ein deutsches Drama nach dem Muster der Shakespeareschen Historien zu gewinnen. Der Griff in die Geschichte einer wogenden, gärenden Zeit, die Darstellung eines Charakters, der mit allen Umgebungen und Verhältnissen kraft seiner Naturanlage auf redliche Selbsthilfe gestellt ist, der Reichtum des poetischen Details, das Kolorit mußten gleichmäßig Aufsehen erregen und Bewunderung wecken. G., der im Verein mit Merck das Werk im Selbstverlag hatte erscheinen lassen und von den eifrigen Nachdruckern um etwanige äußere Vorteile betrogen ward, war in einiger Verlegenheit, wie er das Papier bezahlen sollte, auf dem er die Welt mit seinem Ruhm bekannt gemacht. Die jugendlichen Stürmer und Dränger in der Litteratur aber fühlten, daß sie einen Vorkämpfer, ja ein Haupt erhalten hatten; "Götz" trat in den Mittelpunkt des litterarischen Tagesinteresses und rief überdies eine Flut von Ritterschauspielen und Ritterromanen aller Art hervor. G. selbst dachte zwar eine Folge von Momenten der deutschen Geschichte in ähnlicher Weise poetisch zu gestalten, ward jedoch durch den Drang seines Innern auf ganz andre Wege geführt. Um sich nach der Heirat Lottes mit Kestner von der Qual einer Erinnerungen und der immer noch nachwirkenden Leidenschaft zu befreien, um die Elemente der Selbstzerstörung, welche während der Sturm- und Drangperiode sich in der Brust beinahe jedes Jünglings regten, gleichsam aus sich herauszuwerfen, begann der Dichter den Roman "Die Leiden des jungen Werther" (Leipz. 1774), welchen er in kürzester Frist vollendete. Das Werk gab der herrschenden Stimmung der Zeit und der Jugend, dem gesunden wie dem krankhaften Drang derselben, den vollendetsten Ausdruck. Den Konflikt des Herzens und der Leidenschaft, der subjektiven Empfindung mit den herrschenden Gesellschaftszuständen und der realen Welt überhaupt meisterhaft darstellend, war der "Werther" nur nach einer Richtung hin krankhaft sentimental, nach der andern voll tiefster, echtester und unmittelbarster Poesie. Die Stimmungsfülle, die Wärme und Natur des Details und die leuchtende Schönheit des Stils übertrafen alles, was die deutsche Litteratur seither von Ansätzen poetischer Prosa besessen hatte. Die Aufnahme und der Triumph des Romans waren seinem Verdienst entsprechend. Auf gewisse Schichten der Gesellschaft wirkten die Sentimentalität, die Gewalt der rührenden Momente bis zum Verkehrten; Selbstmord und hypochondrische Zerstörung des Daseins wurden durch die Lektüre des "Werther" und seiner zahllosen Nachahmungen vielfach veranlaßt. Anderseits begriffen die Einsichtigen, welch eine Dichterkraft in G. erschienen sei, und standen gegen die Angriffe der alten nüchternen rationalistischen Schule, welche in Nicolais abgeschmackten "Freuden des jun-^[folgende Seite]