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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Goethe

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Goethe (1776-86).

schaft, aus der er sich gerissen, machte nur allzu rasch andern Platz. Ohne Liebe war ihm das Leben undenkbar. Noch von Weimar aus hatte er mit einer tief empfundenen Widmung seine "Stella" an deren Urbild Lili gesendet; aber die Erinnerungen an die aufgegebene Braut (die sich ihrerseits kaum ein Jahr nach Goethes Weggang verlobte und mit einem Herrn v. Türckheim in Straßburg vermählte) hinderten nicht neue Empfindungen. Die ersten weimarischen Jahre sahen mancherlei flüchtige Liebesneigungen und Liebeleien ("Miseleien", wie es in der kraftgenialen Sprache hieß); die Spuren mancher vorübergehenden, raschen Beziehung finden sich in den Goetheschen Tagebüchern. Das eigentliche Herzensleben des Dichters aber setzte sich fort in den Beziehungen zu Charlotte v. Stein und Corona Schröter. Frau v. Stein, geborne v. Schardt, die Gemahlin des herzoglichen Oberstallmeisters, eine jener Frauennaturen, welche mit wunderbar fesselnden Vorzügen, mit dem Reiz höchster Anmut und feinseelischen Regungen eine gewisse Kälte und ruhige Überlegenheit verbinden, war sieben Jahre älter als G. Sie setzte dem leidenschaftlichen Liebeswerben, mit dem G. sie im ersten Jahr seines weimarischen Aufenthalts bestürmte, entschiedene Zurückhaltung entgegen, verriet ihm jedoch, daß sie von seiner Neigung nicht ungerührt sei, legte entschiedenes Interesse an seinem ganzen Thun, Leben und Dichten an den Tag und fesselte ihn damit um so fester und tiefer. Als gegen Ende des Jahrs 1776 die schöne Sängerin Corona Schröter nach Weimar übersiedelte (sie war als Kammersängerin der Herzogin Amalia berufen), war G. bereits der tägliche Freund des Steinschen Hauses und ihm der Umgang mit der geistvollen, seine besten Lebenshoffnungen weckenden Frau zum unabweisbaren Bedürfnis geworden. Ließ ihn Coronas Schönheit und Jugend nun auch für diese erglühen, so verdrängte doch die junge Sängerin die anmutige ältere Frau nicht aus seinem Herzen. Leise, unmerklich, vielleicht ohne bewußte Absicht zog ihn Charlotte ganz an sich, mehr und mehr ward auch sie von Goethes Leidenschaft ergriffen. Aus der Freundschaft war eine Liebe geworden, deren Gedächtnis in all ihrem Reiz in Goethes erhaltenen Briefen an Charlotte v. Stein unsterblich fortlebt. Was G. in den Jahren des Werdens dieser Liebe und der Zeit der ausschließlichen Beziehung zu Frau v. Stein genossen und gelitten, verraten Tagebücher und Briefe nur zum kleinsten Teil; selbst seiner Dichtung vertraute er nur einzelne Züge seines damaligen Erlebens. Im Treiben und in der Bewegung seines Hof- und Geschäftsdaseins, in der Fülle seines Geheimlebens "schwanden ihm die Gestalten aller fernen Freunde wie im Nebel"; Weimar hatte und hielt ihn ganz.

Im ersten Jahr seines weimarischen Lebens hegte er wohl die Absicht, die Besten derer, mit denen er in frühern Zeiten gelebt und gestrebt hatte, herzuzurufen. Als der Herzog einen Generalsuperintendenten bedurfte, empfahl G. Herder, welcher im Herbst 1776 von Bückeburg nach Weimar übersiedelte. Die Stürmer und Dränger Lenz und Klinger kamen ungerufen, konnten sich aber in der weimarischen Hofwelt nicht behaupten. Fr. Leopold Stolberg ward durch Klopstock vom Antritt seiner Kammerherrnstellung zurückgehalten, für Merck wollte sich trotz der Neigung des Herzogs zu dem kaustischen Mann keine passende Situation ergeben. So blieb G. auf die nähern Beziehungen zu Herder, Wieland, Knebel, auf entferntere zu Bertuch, Musäus, Einsiedel, Seckendorff u. a. eingeschränkt. Mit den Professoren der Universität Jena begann sich ein Verhältnis herzustellen, als G. sich mit Eifer, auch hierin mit dem Herzog Eines Sinnes, auf naturwissenschaftliche Studien warf. Seine Sorgfalt für den Ilmenauer Bergbau führte ihn zunächst zu mineralogischen und geologischen Studien, denen sich in weiterer Folge botanische, anatomische, osteologische und (mit besonderer Leidenschaft betrieben) Studien zur Farbenlehre anschlossen. Auch durch diese ward die ohnehin karge Zahl der Stunden, welche der poetischen Produktion gewidmet werden konnten, noch vermindert. In der ersten weimarischen Periode von 1776 bis 1780 schien es anfangs, als solle der Dichter nur zu den kleinen Gelegenheitsspielen Muße und Kraft gewinnen, die für den unmittelbaren poetischen Bedarf des Tags gebraucht wurden. Standen einzelne derselben, wie das reizende Genredrama "Die Geschwister" (1776), höher, und bewährten auch die leichten Sing- und Scherzspiele: "Lila" (1777), "Der Triumph der Empfindsamkeit" (1778) die alte Phantasiefülle des Dichters, so konnte er selbst sich davon nicht befriedigt fühlen. An die von Frankfurt unvollendet mitgebrachten großen Anfänge ("Egmont", "Faust", "Der ewige Jude") wagte er nicht Hand anzulegen. Dafür begann er 1778 den Roman "Wilhelm Meister" und schuf 1779 in einer ersten (Prosa-) Bearbeitung das Schauspiel "Iphigenia auf Tauris", welches auf einem besondern Theater in Ettersburg aufgeführt wurde, wobei G. den Orest, Prinz Konstantin den Pylades, Corona Schröter die Iphigenia, Knebel den König Thoas spielte. "Iphigenia" war das erste größere Zeichen der innern Wandlung, die in Goethes Dichtung eintritt.

Am Ende des Jahrs 1779 unternahm G. mit dem Herzog, der ihn kurz zuvor zum Wirklichen Geheimen Rat ernannt hatte, eine Reise nach der Schweiz, welche gute Vorsätze zeitigte und kräftigte. Auf derselben sah G. sein Vaterhaus, in Sesenheim Friederike Brion, in Straßburg Lili als Frau v. Türckheim wieder. Nach seiner Rückkehr sollte in allem Betracht ein neues Leben begonnen werden. Auch die Produktion nahm einen neuen Aufschwung. Neben den Operetten und Singspielen: "Jery und Bätely", "Die Fischerin", "Scherz, List und Rache" (sämtlich wiederum für Aufführungen in den Lustschlössern des weimarischen Hofs bestimmt) arbeitete G. fortgesetzt am "Wilhelm Meister", begann, aus seiner eigensten Situation und Stimmung herausdichtend, das Drama "Torquato Tasso", die Tragödie "Elpenor" und das epische Gedicht "Die Geheimnisse", welche beiden letztern Fragmente blieben. Je länger, je mehr stellte sich die Unmöglichkeit heraus, ohne eine Entlastung von den Geschäften und eine völlige Einkehr bei sich selbst einer Reihe größerer poetischer Pläne gerecht zu werden. Der Schaffensdrang Goethes ruhte nicht; aus dem Mißverhältnis der Ansprüche, die er an sich selbst und welche die Welt an ihn stellte, erwuchs ihm manches Schmerzliche. Gleichwohl würde weder der Wunsch, seine angefangenen größern Werke zu beenden, noch die in den Jahren zwischen 1780 und 1786 allerdings ständig wachsende Sehnsucht Goethes, Italien zu sehen und seine Jugendsehnsucht zu befriedigen, den Dichter zum raschen Abbruch all seiner heimischen Beziehungen und zum Entschluß einer fluchtähnlichen Reise nach Rom bewogen haben. Es traten andre Momente hinzu. Herzog Karl August gewann die Ruhe zum patriarchalischen Fürsten seines kleinen Landes, die ihm G. gern anerzogen hätte, zunächst noch nicht und suchte Befriedigung für den Drang seiner Natur in größern