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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Griechische Sprache

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Griechische Sprache (Mundarten).

Vollkommenheit der Laute, für Klarheit der Form, für Gesetz und Organismus." (Curtius.) Ist aber schon das Material der griechischen Sprache, gleichsam ihr Körper, was Reichtum der Formen, Schönheit, Reinheit und Durchsichtigkeit der Bildung anbetrifft, bewundernswürdig, so ist der Geist, der diese Formen belebt, ordnet und ihnen Leben einhaucht, die Syntax, von keiner andern Sprache jemals erreicht worden. Wie alle Sprachen, deren Grenzen sich über weite, durch Bodenbeschaffenheit, geographische Lage und Klima verschiedene Länderstriche erstrecken, hatte auch die g. S. verschiedene Mundarten, und zwar sind es in historischer Zeit drei Dialekte, welche vorherrschen, der äolische, dorische und ionische. Der äolische Dialekt, der namentlich in Böotien, Thessalien, Makedonien und den äolischen Kolonien Kleinasiens gesprochen wurde, zeigt die meisten altertümlichen Formen, aber auch innerhalb seiner eignen lokalen Grenzen die meisten Differenzen. Eigentümlich ist der asiatischen Mundart des Äolischen die Scheu vor der Aspiration, dann, im ausgesprochensten Gegensatz zu den übrigen Mundarten, die Barytonie, d. h. die Scheu vor der Betonung der Endsilben, und der Mangel eines Dualis. In ihr dichteten Sappho und Alkäos. Der dorische Dialekt trägt das Gepräge des Stammcharakters an sich; er ist rauher und von Haus aus den Hochländern eigen, in deren vollen und breiten Lauten man die durch Bergleben und Bergluft gestählte Brust vernimmt; Kürze in Form und Ausdruck ist Charakter des Dorismus, der auch mit Vorliebe altertümliche Wortformen bewahrte und sich vornehmlich durch den häufigen Gebrauch des dunkeln A-Lauts an Stelle des eta ^[η] und omega ^[ω] der andern Dialekte und seine Abneigung gegen Diphthonge auszeichnet. Er war Volkssprache in der mittelgriechischen Landschaft Doris, seit der Einwanderung der Dorier im größten Teil des Peloponnes sowie in Kreta, Sizilien, Unteritalien und in den dorischen Kolonien auf der Südküste Kleinasiens. Übrigens variiert auch er nach der Gegend, und mit Recht spricht man von einer härtern dorischen Mundart, wie sie in Sparta, Kreta und Großgriechenland, und einer mildern, wie sie in dem übrigen Gebiet des Dialekts zu Hause war. Als litterarische Überreste des dorischen Dialekts sind namhaft zu machen, außer den Fragmenten des Alkman, Epicharm, Sophron, Philolaos, Archytas u. a., die Schriften des Mathematikers Archimedes. Der ionische Dialekt, der eigentliche Antipode des dorischen, spiegelt wie dieser den Charakter des Volksstammes in sich ab, dem er seine Entstehung verdankt. Daher das Weiche, Melodische und Liebliche der ionischen Mundart, die ihren Ursprung dem glücklichen Himmel Kleinasiens und jenem heitern Volksstamm verdankt, den wir den ionischen nennen. Diese Weichheit wird vorzüglich in der Häufung der Vokale und in der zunehmenden Abneigung gegen die Aspiration fühlbar. Wie sehr die Ias (so hieß der ionische Dialekt bei den Grammatikern) auch die unvermittelte Fülle der Vokale liebte, zeigt ihr geduldiges Verhalten gegen den Hiatus und unzusammengezogene Formen. Die Vokale sind weicher, aber dünner; häufiger sind e und u als a und o. Die Formen der Sprache wie des Ausdrucks neigen sich zu einer gewissen behaglichen Breite; es herrschen Fülle der Formen, mehr Freiheit und eine größere Flüssigkeit der Laute vor. Die ältesten Erzeugnisse dieser Mundart, die wir besitzen, sind die Homerischen Gedichte. Der Geschichtschreiber Herodot u. der Arzt Hippokrates sind unsre Hauptquellen für ionische Prosa. Besonders bemerkenswert ist die Sprache Homers. Auf die Ausbildung dieses sogen. epischen oder ältern ionischen Dialekts hat ebensowohl der allgemeine Charakter des Ionismus eingewirkt wie der Rhythmus des epischen Verses, des Hexameters. Diesen epischen oder Homerischen Dialekt adoptierten nicht nur die Epiker nach Homer, sondern auch Elegiker, philosophische und didaktische Dichter. Zu diesen drei Dialekten, welche zur Zeit der großen griechischen Völkerwanderung schon ausgebildet waren, tritt nun noch als vierter der früher von dem ionischen nicht wesentlich verschiedene attische (die Atthis) hinzu. Er steht in der schönen Mitte zwischen dorischer Härte und ionischer Weichheit. Er bringt den von den Ioniern zurückgesetzten Vokal a neben e wieder zu Ehren und mäßigt die allzu üppige Vokalfülle; aber auch er ist nicht ein für allemal starr abgeschlossen, sondern hat seine Entwickelung. Man unterscheidet einen (bis zum Beginn des Peloponnesischen Kriegs währenden) ältern und einen jüngern Attizismus, ohne daß jedoch die Unterschiede erhebliche wären; z. B. verwandelt der letztere die Lautverbindungen rs in rr, tt in ss. Der attische Dialekt zeichnet sich aus durch die vollendete Abrundung in der Formenbildung wie durch die Gewandtheit und Biegsamkeit der syntaktischen Verbindungen und gewann unter allen die weiteste Verbreitung. Auch für uns ist dieser Dialekt unstreitig von der größten Bedeutung, da uns derselbe vermöge der Anzahl und Trefflichkeit der noch erhaltenen Schriften zur Grundlage des griechischen Sprachstudiums zu dienen hat. Die bedeutendsten Vertreter des Attizismus sind: Thukydides, Xenophon, Platon, die Redner Lysias, Isokrates, Demosthenes, Äschines, die Tragiker Äschylos, Sophokles, Euripides und der Komödiendichter Aristophanes. Eine höchst beachtenswerte Erscheinung ist es und zeugt von dem tiefen Verständnis der Griechen für ihre Dialekte, daß (mit natürlicher Ausnahme der Lyrik) die Gattungen der Poesie sich typisch und für immer des Dialekts derjenigen Landschaften bedient haben, wo die Gattung zuerst durch künstlerische Pflege eine feste Gestalt erhalten hatte. Als endlich die griechische Freiheit dem makedonischen Usurpator unterlegen war und nicht mehr jene Mannigfaltigkeit freier, wenn auch kleiner hellenischer Staaten bestand, welche eine so reichhaltige und fruchtbringende Entfaltung der Stammeseigentümlichkeit befördert oder eigentlich erst möglich gemacht hatte, da verschwand auch der Reichtum an dialektischen Nüancen, und die Sprache gehorchte, wie die übrigen Zweige des Volkslebens, dem Prinzip des Nivellierens, am schnellsten der ionische, am zähsten der dorische Dialekt. Am Hof der makedonischen Herrscherfamilie war der attische Dialekt die gewöhnliche Sprache und wurde somit Umgangssprache der gebildeten Stände und allgemein angenommene Schriftsprache. Durch diese allgemeine Verbreitung mußte jedoch der Dialekt notwendig von seiner Eigentümlichkeit einbüßen und dagegen Neues und teilweise Fremdartiges in sich aufnehmen. So wurde aus dem attischen Dialekt der allgemeine oder hellenische, welcher auch die Schriftsprache der folgenden Zeiten war, nur daß einzelne Schriftsteller, namentlich die sogen. Sophisten des 2. Jahrh. n. Chr., wie besonders Lukianos von Samosata, auf die Reinheit der attischen Sprache zurückzugehen versuchten. Neben dieser Gemeinsprache der Gebildeten und der Litteratur entstanden zu derselben Zeit zwei neue Mundarten, die makedonische und alexandrinische, die aber nur Volkssprachen blieben und sich nie zu der Sprache der feinern Litteratur erhoben. Beide weichen von der Gemeinsprache