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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Großbritannien

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Großbritannien (Geschichte: Wilhelm IV.).

über das ganze Land verbreitete und sich der Regierung so drohend gegenüberstellte, daß Wellington keinen andern Ausweg sah, als den Irländern 1828 einen Teil ihrer Forderungen zu gewähren. Hiermit nicht zufrieden, stellte sich O'Connell (s. d.), der große Agitator Irlands, an die Spitze seiner Glaubensgenossen, erhielt, mit den Priestern verbunden, das Volk in heftiger Aufregung, ließ sich von der Grafschaft Clare in das Parlament wählen und erklärte, daß er trotz der Testakte seinen Platz im Unterhaus einnehmen werde. Dem am 5. Febr. 1829 wieder zusammengetretenen Parlament legte darauf die Regierung 5. März eine Bill vor, die einen mit dem katholischen Glauben zu vereinbarenden Staatsbürgereid aufstellte, durch dessen Leistung jeder Katholik das Recht erhielt, ins Parlament und mit wenigen Ausnahmen zu allen Ämtern zugelassen zu werden. Trotz des Widerstandes der anglikanischen Hierarchie und der mit ihr verbündeten "protestantischen Partei", deren Führer der Herzog von Cumberland war, ging die Emanzipationsbill im Unter- und durch die Bemühungen Wellingtons auch im Oberhaus durch und erhielt 13. April 1829 die königliche Bestätigung. Die auswärtigen Angelegenheiten wurden von dem Ministerium Wellington mit wenig Glück geführt. Es rief zwar wegen der griechischen Frage eine Konferenz nach London zusammen, in welcher beschlossen wurde, die Pforte zum Frieden mit Griechenland zu nötigen; aber Frankreich war es, welches durch seine Flotte die Pforte zum wirklichen Abschluß eines Waffenstillstandes zwang (1828). Den Krieg Rußlands mit der Türkei (1828-29) konnte das Kabinett trotz aller diplomatischen Verhandlungen nicht hindern, und nach Abschluß des Friedens ließ es sich von Rußland das Verdienst entreißen, Griechenlands vollständige Unabhängigkeit auszuwirken.

Der Sieg der liberalen Grundsätze in der Emanzipation der Katholiken erweckte vielfach die Hoffnung auf eine durchgreifende Reform des Parlaments. Die englische Volksvertretung litt an großen Übelständen, die schon lange, namentlich zu Pitts Zeiten, heftig, aber stets vergeblich angegriffen worden waren. An 150 Mitglieder des Unterhauses wurden thatsächlich von Peers oder andern reichen Privatpersonen ernannt, die im Besitz alter Burgflecken (rottenboroughs) waren, welche in frühern Zeiten das Wahlrecht erhalten hatten, gegenwärtig aber so heruntergekommen waren, daß ihre ganze Bevölkerung oft nur aus dem Gesinde jener Großen oder aus dienstbaren Einwohnern bestand. Die Territorialherren verliehen oder verkauften die jenen Ortschaften zustehenden Parlamentsstellen nach Gutdünken. Überhaupt wurden von allen Stellen des Unterhauses höchstens 70 durch wirklich freie Wahl besetzt, während außerdem nur bei etwa 160 andern wenigstens eine Einwirkung der Bevölkerung auf das Wahlresultat stattfand. Viele der größten Städte des Reichs, wie Sheffield, Birmingham, Manchester u. a., waren im Parlament gar nicht vertreten. Die 45 schottischen Deputierten wurden in den Städten von den Stadträten, in den Grafschaften von den Inhabern der Oberherrlichkeit bestellt. Diese Mißstände, namentlich aber der Verkauf jener Stellen in den Burgflecken, wurden jetzt von der Opposition zum Gegenstand ihrer Angriffe gemacht. Die Whigs erklärten, das Unterhaus werde erst dann seiner wahren Bestimmung entsprechen und die ganze Nation repräsentieren, wenn diese durch "veränderte, den gegenwärtigen Verhältnissen der Bevölkerung angemessene Einrichtung des Wahlrechts in den Stand gesetzt werde, unabhängige Vertreter zu wählen". Bei der Eröffnung des Parlaments 4. Febr. 1830 zeigte sich jedoch die Regierung der gewünschten Reform wenig geneigt und suchte die Opposition durch Abschaffung einiger Abgaben auf notwendige Lebensbedürfnisse zufriedenzustellen.

Von Wilhelm IV., welcher 26. Juni 1830 seinem Bruder auf dem Thron gefolgt war und früher selbst den Whigs angehört hatte, hoffte man bestimmt die Reform des Wahlsystems. Aber der neue König behielt das alte toryistische Ministerium zunächst bei, während im Volk durch die Einwirkungen der französischen Julirevolution die Bewegung immer mächtiger ward und immer neue Kreise ergriff. Die Parlamentswahlen vom August 1830 verstärkten die Opposition um etwa 50 Stimmen, und 15. Nov. gelang es einer seltsamen Koalition der Whigs und der extremsten Tories, mit einer Mehrheit von 26 Stimmen ein Mißtrauensvotum gegen die Regierung durchzusetzen, infolge dessen dieselbe zurücktrat. Lord Grey bildete darauf ein Whigministerium, in welches unter andern die Lords John Russell, Althorpe, Lansdowne, Melbourne, Holland, Goderich, Palmerston als Minister des Auswärtigen und Brougham als Lord-Kanzler eintraten. Am 1. März 1831 legte Russell dem Unterhaus den Entwurf des neuen Wahlgesetzes vor. Die Zahl der Mitglieder des Unterhauses wurde dadurch von 658 auf 595 herabgesetzt; 60 "rottenboroughs" sollten das Wahlrecht verlieren, 47 andre, die nicht mehr als 4000 Einw. zählten, nur einen Vertreter zu wählen haben. Dagegen sollten 27 bis jetzt nicht vertretene große Städte das Wahlrecht erhalten, und für London und 27 Grafschaften sollte die Zahl der Vertreter erhöht werden. In den Städten sollten alle Hauseigentümer von 10 Pfd. Sterl. Rente, in den Grafschaften außer den bisher allein berechtigten Freeholders auch die Erbpachter und die Zeitpachter, die jährlich über 50 Pfd. Sterl. Pacht zahlten, das Wahlrecht haben. Diese Reformbill fand trotz ihrer Mäßigung im Parlament die heftigste Opposition; bei der Abstimmung 19. April blieben die Minister in der Minorität, worauf das Parlament aufgelöst wurde. Bei den neuen Wahlen siegten die Whigs, und so kam es, daß die wieder vorgelegte Reformbill im Unterhaus 19. Sept. mit einer Majorität von 109 Stimmen angenommen wurde. Da das Oberhaus dieselbe jedoch 8. Okt. verwarf, entstand große Gärung im Lande, die sich in Pöbelaufläufen und Tumulten äußerte, und die Krone fand sich bewogen, das Parlament zu vertagen und Privatunterhandlungen mit den Tories anzuknüpfen. Nachdem das Parlament wieder eröffnet und die Bill in etwas veränderter Gestalt 22. März 1832 im Unterhaus wiederum angenommen worden war, gestattete das Oberhaus wenigstens die zweite Lesung. Aber weiter waren die starren Tories nicht zu bringen, das Ministerium blieb mit seinen Vorschlägen wiederum in der Minorität. Den Ministern blieb jetzt nur eins übrig: durch einen Peersschub sich im Oberhaus die Majorität zu verschaffen und so den Willen des Landes zur Geltung zu bringen. Als der König diesen Vorschlag nicht annahm, gaben sie ihre Entlassung, und Wellington erhielt den Auftrag, ein neues Ministerium zu bilden. Die Erbitterung im Volk stieg durch diese Vorgänge aufs höchste. Die Trauerglocken läuteten den ganzen Tag, die königlichen Fahnen wurden abgerissen, der König selbst bei einer Spazierfahrt insultiert. Unter solchen Umständen entschloß sich Wellington, den Widerstand aufzugeben; Lord Grey trat wieder an die Spitze der