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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Großbritannien

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Großbritannien (Geschichte: Wilhelm IV.).

Regierung, und Wellington vermochte seine Anhänger im Oberhaus, um den vor allen Dingen gefürchteten Peersschub zu vermeiden, der Bill keine fernern Hindernisse entgegenzustellen. Am 4. Juni 1832 ging dieselbe im Oberhaus durch, im folgenden Monat wurden auch die Reformgesetze für Schottland und Irland angenommen. Die Zahl der Wähler ward dadurch auf eine Million erhöht, 56 Flecken mit bisher 111 Vertretern verloren das Wahlrecht, 30 andre behielten nur einen Deputierten. 42 größere Städte erhielten teils je einen, teils je zwei Vertreter; 65 Stimmen wurden unter die Grafschaften Englands verteilt, Schottland erhielt 8, Irland 5 Stimmen mehr. Das Wahlrecht erhielten in den Grafschaften alle Freeholders mit 40 Schilling jährlichen Reineinkommens, ferner alle lebenslänglichen Freibesitzer mit 10 Pfd. Sterl. Rente, alle Erbpachter (copyholders) und alle Pachter auf 20 Jahre mit 50 Pfd. Sterl. Rente, in den Städten alle, welche ein Haus zu 10 Pfd. Sterl. Rente als Eigentümer oder Mieter innehatten. Die Annahme dieser Reformbill bildet einen scharfen Abschnitt in der Geschichte von G.; mit dem Zusammentritt des ersten nach den neuen Bestimmungen gewählten Parlaments 5. Febr. 1833 beginnt eine neue Epoche derselben.

Das Fortschreiten der Reformgesetzgebung (1832-41).

In diesem Parlament hatte die liberale Partei allerdings die entschiedene Mehrheit; aber es waren in das Unterhaus auch Elemente eingedrungen, die bisher der englischen Volksvertretung fern gehalten waren, und vor denen die Whigs der alten Schule selbst große Scheu empfanden. Es waren dies die Radikalreformer, welche nach dem Muster der französischen Demokraten von 1791 eine völlige Umgestaltung der politischen und sozialen Verhältnisse des Landes ins Auge faßten. Einen willkommenen Angriffspunkt bot ihnen einerseits die im Überfluß schwelgende Hierarchie der englischen Hochkirche, anderseits das unsägliche Elend Irlands. Obgleich der anglikanische Klerus überreichlich mit irdischen Gütern ausgestattet war, setzte er doch seine nächste Bestimmung so sehr außer Augen, daß die Inhaber einträglicher Kirchenämter die Verwaltung derselben meist um kargen Lohn gemieteten Vikaren überließen. Irland aber litt nicht allein an Übervölkerung, sondern es befand sich der dortige Grundbesitz fast ausschließlich in den Händen reicher englischer Familien und der anglikanischen Geistlichkeit, welche den Ertrag desselben meist außerhalb der Insel verzehrten. Zu dieser materiellen Not kam kirchlicher Druck hinzu. Die britische Gesetzgebung erkannte in Irland nur die anglikanische Staatskirche an, und demgemäß wurden in allen irischen Gemeinden protestantische Pfarrer eingesetzt, denen die katholischen Kirchen sowie die Einkünfte der katholischen Geistlichkeit und der verhaßte Kirchenzehnte zugewiesen waren. Die katholische Bevölkerung mußte die protestantischen Gottes- und Pfarrhäuser erhalten und dabei noch die Kosten ihres eignen Kultuswesens tragen. Unter diesen Umständen war es kein Wunder, daß trotz der Fruchtbarkeit der Insel Millionen ihrer Bewohner im Elend schmachteten, und daß die Verzweiflung sie endlich zum Äußersten treiben mußte. Der Zehnte wurde verweigert und den mit dessen Beitreibung beantragten Behörden zuerst vereinzelter, dann aber mittels einer großartigen Organisation geregelter Widerstand entgegengesetzt. Die Seele dieses Vereins war O'Connell, der inzwischen einen Sitz im Unterhaus erlangt hatte. Auflösung der Union zwischen beiden Inseln (repeal) war sein nächster, Befreiung Irlands von der englischen Herrschaft sein entfernterer Zweck, mit welchem das Whigministerium ebensowenig wie die Tories einverstanden sein konnten.

Bald nach Eröffnung des Parlaments trat daher ein Zwiespalt zwischen den frühern Oppositionsgenossen ein. Auf die zahlreichen Gewaltthaten der Iren sich berufend, beantragte Grey, den Lord-Statthalter von Irland zur Ergreifung der schärfsten polizeilichen Maßregeln zu ermächtigen. Vergeblich war O'Connells Widerspruch; diese irische Zwangsbill ward angenommen (29. März 1833), bald darauf jedoch auch eine irische Kirchenreformbill genehmigt, der zufolge die Kirchensteuer abgeschafft, die Ländereien der Bistümer in Erbpacht gegeben, 10 überflüssige Bistümer aufgehoben, die Einkünfte der 12 übrigen herabgesetzt und diejenigen protestantischen Kirchen, in denen seit drei Jahren kein Gottesdienst gehalten worden, eingezogen werden sollten. Außer diesen auf Irland bezüglichen Gesetzen erregten noch die Verhandlungen über die Ostindische Kompanie lebhafteres Interesse. Das Gebiet derselben, welches auf ungefähr 30,000 QM. über 100 Mill. Einw. zählte, hatte infolge eines siegreichen Kampfes gegen die Birmanen 1826 noch einen beträchtlichen Zuwachs erhalten, und dieser Umstand hatte das Bedenken, einen solchen Länder- und Völkerkomplex unter dem Regiment einer Handelsgesellschaft zu lassen, von neuem rege gemacht. Wiewohl die von den Inhabern der 2500 Aktien gewählten 24 Direktoren ihren Sitz in London hatten und in Gemäßheit der von Pitt 1784 eingebrachten ostindischen Bill von einer mit dem Ministerium verbundenen Behörde kontrolliert wurden, so lag doch das eigentliche Regiment in den Händen der in Indien selbst befindlichen Beamten. Das zuletzt auf 20 Jahre erneuerte Privilegium der Gesellschaft lief 1834 ab, und so kam das Kontrollamt unter Charles Grant, später Lord Glenelg, auf den Gedanken, durch eine gründliche Reform der Gesetzgebung wenigstens einen Teil der unglaublichen Mißstände zu beseitigen, welche in der indischen Verwaltung eingerissen waren. Infolgedessen wurde die Ostindische Kompanie als Handelsgesellschaft aufgelöst und der Handel nach Indien allen Briten freigegeben. Die jährliche Dividende der Aktionäre ward auf die feste Summe von 630,000 Pfd. Sterl. angesetzt und der Überschuß zur Einlösung der Aktien innerhalb eines Zeitraums von 20 Jahren bestimmt; bis zum Ablauf desselben behielt die Kompanie ihre bisherige Verwaltung, wobei indessen der "Hof der Direktoren" in eine noch bestimmtere Abhängigkeit vom Kontrollamt gebracht wurde.

In der Session von 1834 trat zunächst wieder die irische Frage in den Vordergrund, indem Lord Grey die Verlängerung der Zwangsbill beantragte, während O'Connell seine Agitationen wieder aufnahm. Aber auch innerhalb der liberalen Partei begann man wenigstens die Gerechtigkeit eines Teils seiner Forderungen anzuerkennen und wünschte ihnen durch neue Säkularisationen des Kirchenguts entgegenzukommen. Vier Mitglieder der Regierung, die sich dem widersetzten, nahmen infolgedessen ihre Entlassung und wurden durch liberale Männer ersetzt, so daß Grey nur mit Mühe im Kabinett die Verlängerung der Zwangsbill durchsetzte. Inzwischen aber waren ohne Greys Wissen zwei Kabinettsmitglieder, Lord Althorp und Littleton, mit O'Connell in Verhandlungen getreten, bei denen sie ihm wenigstens gewisse Milderungen des Gesetzes versprochen hatten. Als nun O'Connell im Unterhaus die ihm gemachten Zusagen mitteilte und den innern Zwiespalt im Ministerium