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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Großbritannien

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Großbritannien (Geschichte: Viktoria).

standen hatte. Während in G. die 18jährige Prinzessin Viktoria, die einzige Tochter des Herzogs von Kent, zur Regierung gelangte, ging die nicht in weiblicher Linie vererbbare Krone von Hannover auf den wenig beliebten Herzog von Cumberland, nun König Ernst August, über. So bedeutsam dies Ereignis im 18. Jahrh. gewesen wäre, in welchem mehr als einmal die Rücksicht auf ihr festländisches Erbland die Politik der Könige von G. beeinflußt hatte, so wenig folgenreich war es jetzt, da die Geschicke beider Länder seit dem Wiener Kongreß sich völlig unabhängig voneinander entwickelt hatten. Dagegen war der Thronwechsel selbst ungeachtet der durch die englische Verfassung so sehr eingeschränkten Macht immer noch ein Vorgang von großer Wichtigkeit; er wurde, da man die liberalen Neigungen der jungen Königin und ihrer nächsten Angehörigen kannte, im Land im allgemeinen mit Freude begrüßt. Dem Herkommen gemäß mußte nun die Parlamentssession in möglichst kurzer Frist geschlossen werden; das Parlament wurde daher nach Genehmigung des Budgets 17. Juli 1837 vertagt und unmittelbar nachher aufgelöst.

Das Ergebnis der Neuwahlen war trotz des durch den Thronwechsel besser gewordenen Verhältnisses der Minister zum Hofe für die liberale Partei insbesondere in England nicht allzu günstig: ihre Majorität im Unterhaus war nicht verstärkt und setzte sich auch diesmal aus verschiedenen, schwer in straffer Parteidisziplin zu haltenden Elementen zusammen. In der am 20. Nov. eröffneten Session ward zunächst die Zivilliste der jungen Königin auf die jährliche Summe von 385,000 Pfd. Sterl. (10,000 Pfd. Sterl. mehr, als Wilhelm IV. bezogen hatte) festgesetzt. Dann nahmen im Anfang des nächsten Jahrs neben den irischen Angelegenheiten besonders die in Kanada (s. d.) unter der alten französischen Bevölkerung ausgebrochenen Unruhen die öffentliche Aufmerksamkeit in Anspruch. In ersterer Beziehung setzte die Regierung nun zwar die Zehntenbill endlich durch, aber doch erst, nachdem Lord John Russell die vielbekämpfte Appropriationsklausel, bisher eine Hauptforderung der Whigs, aufgegeben hatte; die irische Städteordnung dagegen vermochte man auch durch diese Nachgiebigkeit nicht vor dem Schicksal abermaliger Verwerfung im Oberhaus zu retten. In Kanada hatte die Regierung nach Niederwerfung des Aufstandes den Grafen Durham, einen Mann von festem Charakter und entschieden liberaler Gesinnung, zum Generalgouverneur ernannt und mit diktatorischer Gewalt ausgestattet. Als derselbe nun aber von der ihm übertragenen Gewalt Gebrauch machte und über einige Führer des Aufstandes die Strafe der Verbannung nach der Insel Bermuda verhängte, griffen die Radikalen unter Lord Brougham und die Tories den Statthalter und das Ministerium aufs heftigste an. Das letztere war schwach genug, dieser Opposition zu weichen und sich die Annahme einer Bill gefallen zu lassen, welche zwar die Maßregeln Durhams nachträglich guthieß, gleichzeitig aber einen unzweideutigen Tadel gegen ihn aussprach. Graf Durham, der eben im Begriff war, die Angelegenheiten Kanadas nach einem großartigen Plan zu ordnen, fand sich durch jenen Beschluß aufs tiefste gekränkt und legte 1. Nov. sein Amt nieder. Es mochte ihm eine Genugthuung gewähren, daß bald nachher der Aufstand sich erneuerte und nur mit großer Mühe und unter Anwendung derselben Maßregeln, die man Durham zum Vorwurf gemacht hatte, gedämpft werden konnte.

Um diese Zeit teilten sich die Radikalen in zwei einander schroff gegenübertretende Fraktionen. Ein irischer Advokat, Feargus O'Connor, der, weil sein Besitzstand den Wahlzensus nicht erreichte, seines Sitzes im Parlament verlustig gegangen, war in England als Agitator innerhalb der Arbeiterklassen aufgetreten. Unter seiner Führung wurde ein Gesetzentwurf (the people's charter, s. Chartismus) ausgearbeitet, der mit den schon oben erwähnten Forderungen der radikalen Partei: Einführung der geheimen Abstimmung bei den Wahlen, des allgemeinen Stimmrechts und jährlicher Parlamentswahlen, einige neue verband, namentlich eine neue Einteilung der Wahlbezirke lediglich nach der Bevölkerungszahl verlangte. Auf das lebhafteste wurde nun im ganzen Land für dies Programm agitiert; überall fanden Volksversammlungen statt, die sich für dasselbe aussprachen; ein aus gewählten Vertretern der Arbeitervereine zusammengesetzter Nationalkonvent leitete von London aus die Bewegung; namentlich in den Fabrik- und Bergwerksdistrikten war die Arbeiterbevölkerung für solche Forderungen gewonnen, und es gelang den Leitern der Chartisten, zu denen außer O'Connor der Prediger Stephens, ein Mr. Oastler aus Leeds und Mr. Fielden, Parlamentsmitglied für Oldham, gehörten, dieselben in beständiger Aufregung zu erhalten, zumal die Mißernte des Jahrs 1838 die Gärung im Volk noch mehr steigerte. Dazu trug namentlich die Gesetzgebung hinsichtlich der Getreidezölle bei, welche völlig einseitig im Interesse des Großgrundbesitzes geregelt war und dem Land zu dessen gunsten die beträchtlichsten Opfer auferlegte. Die Getreidezölle waren nämlich durch Gesetze von 1815 und 1828 derart geordnet, daß die Einfuhr von Getreide fast vollständig unmöglich gemacht war und die einheimischen Produzenten keine nennenswerte Konkurrenz von außerhalb zu befürchten hatten. Nur wenn der Getreidepreis in England eine fast unerschwingliche Höhe erreicht hatte, sollte der Zoll auf 1 Schilling herabsinken; aber wenn dann irgendwie namhafte Zufuhren die Kornpreise herabdrückten, stieg alsbald der Zoll wieder von selbst. Gegen die durch ein so sinnreich ausgeklügeltes Verfahren herbeigeführte Ausbeutung der Nation erhob sich nun eine lebhafte Opposition und zwar zunächst wiederum in den am schwersten von der Teurung betroffenen Fabrikdistrikten. Unter Führung Richard Cobdens, eines Fabrikanten zu Manchester, bildeten sich Vereine, um die Aufhebung aller Korngesetze zu erwirken, welche sich über ganz G. verbreiteten und zu einem großen Bunde, der sogen. Anti-cornlaw-league, zusammentraten, dessen Leiter neben Cobden John Bright, Thomas Milner Gibson und Th. Thompson waren. Während der Chartismus die eigentliche Arbeiterbevölkerung beherrschte, waren es besonders die Mittelklassen (Handwerk und Industrie), die sich diesem Bund anschlossen.

Beide Bewegungen, sowohl die gegen die Korngesetze gerichtete als die chartistische, beschäftigten das Parlament in der Session von 1839. Die Petitionen um Aufhebung der Getreidezölle hatten 50,000 Unterschriften erhalten; trotzdem wurde sowohl der Antrag Lord Broughams im Oberhaus, den Beschwerdeführern zu gestatten, ihre Gründe durch Bevollmächtigte dem Parlament mündlich vorzutragen, als der mildere Vorschlag von Villiers im Unterhaus, die Korngesetze einer vorurteilsfreien Prüfung zu unterwerfen, verworfen, und so mußte die Liga zunächst ihre Arbeit im Land fortsetzen, um auf die