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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Großbritannien

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Großbritannien (Geschichte 1851-1853).

welche unrechtmäßige Titel führten, für nichtig erklärte. Ehe es aber zur Annahme dieses Gesetzes kam, erlitt das Ministerium bei Gelegenheit eines von ihm bekämpften Antrags der Radikalen auf Erweiterung des Stimmrechts eine derartige Niederlage, daß Russell sich genötigt glaubte, 20. Febr. seine Entlassung einzureichen. Es folgte eine mehrtägige Ministerkrisis; da aber Lord Stanley nicht im stande war, ein toryistisches Ministerium zu bilden, so mußte Russell, dem eine Vereinigung mit den Anhängern des 2. Juli 1850 gestorbenen Sir Robert Peel nicht gelang, sich auf die Entscheidung der Königin 3. März zur Fortführung der Geschäfte entschließen. Er legte nun die Bill über die kirchlichen Titel wieder vor, aber so abgeschwächt, daß nur das Verbot der Annahme kirchlicher Territorialtitel blieb. Am 5. Juli wurde sie mit einigen trotz des Widerstandes der Regierung hinzugefügten verschärfenden Amendements angenommen. Noch mehrere andre sogen. "harmlose" Niederlagen, bei denen es eine Majorität von 1 bis zu 60 Stimmen gegen sich hatte, erlitt das Kabinett; doch blieb es, weil man, wie die letzte Krisis gezeigt hatte, kein andres an seine Stelle zu setzen wußte. Größeres Interesse als die 8. Aug. geschlossene Session hatte die großartige Schöpfung des Prinzen Albert, die 1. Mai 1851 im Kristallpalast eröffnete erste allgemeine Industrieausstellung, in Anspruch genommen.

Ende 1851 (22. Dez.) überraschte die politische Welt die Nachricht von dem Austritt Palmerstons aus dem Kabinett. Die damals verborgen gebliebenen Gründe dieses Schrittes sind erst später bekannt geworden: Palmerston hatte sofort nach dem Staatsstreich Napoleons III., ohne die Genehmigung der Königin oder die Zustimmung seiner Kollegen abzuwarten, seine Billigung desselben ausgesprochen, ein eigenmächtiges Vorgehen, das natürlich zu seiner sofortigen Entlassung führen mußte, die man ihm übrigens um so lieber erteilte, als seine vielgeschäftige Interventionslust in aller Herren Ländern dem Ministerium schon viele Unbequemlichkeiten verursacht hatte. Als Staatssekretär des Äußern trat Graf Granville ein.

Am 3. Febr. 1852 wurde das Parlament eröffnet, und 9. Febr. legte Russell dem Unterhaus seine in der vorigen Session angekündigte neue Reformbill vor, die indes so wenig den Ansprüchen der liberaler Gesinnten auf eine wirklich eingreifende Ausdehnung des Wahlrechts entsprach, daß sie vom Haus gleichgültig, von der Presse aber und im Land mit Hohn und Spott aufgenommen wurde. Ehe es aber noch zu einer ernsthaften Diskussion derselben kam, stürzte Lord Palmerston seine frühern Kollegen. Das Ministerium hatte angesichts der gespannten auswärtigen Verhältnisse eine beträchtliche Verstärkung der Land- und Seemacht beantragt; Palmerston unterstützte zwar die Maßregel, setzte aber 20. Febr. mit Hilfe der Tories ein den Grundcharakter derselben veränderndes Amendement durch und nötigte so die Regierung zum Rücktritt. Nun bildete Lord Stanley, der inzwischen als Lord Derby ins Oberhaus getreten war, ein neues, rein toryistisches Kabinett, in dem er selbst den Vorsitz übernahm, und dessen namhafteste Mitglieder Horace Walpole (Staatssekretär für das Innere), Disraeli (Schatzkanzler), Pakington (Minister für die Kolonien), Henley (Präsident des Handelsamtes) und Lord Malmesbury (Minister der auswärtigen Angelegenheiten) waren. Das neue Ministerium war gesonnen, nach außen unter Billigung der Vorkehrungen zur Landesverteidigung eine friedliche Politik zu befolgen, im Innern aber, für diese Session wenigstens, weder in Bezug auf die Wahlreform noch in Bezug auf die Finanz- und Handelspolitik wichtigere Maßregeln zu beantragen. Die durch das Stimmenverhältnis im Unterhaus notwendig gemachte Auflösung desselben, welche die Liberalen möglichst frühzeitig wünschten und durch allerhand Interpellationen zu beschleunigen versuchten, sollte erst am Ende der ordentlichen Session erfolgen. In der That setzte die Regierung auch ihre Milizbill durch und schuf somit eine aus 80,000 Freiwilligen bestehende Streitmacht, welche aber nur bei einer Invasion des Landes oder bei drohender Gefahr einer solchen einberufen werden sollte. Dann erst wurde 1. Juli 1852 die Session geschlossen und darauf das Parlament aufgelöst.

Die Eröffnung des neuen Parlaments fand 4. Nov. statt. Unter den Mitgliedern des Unterhauses waren 240 zum erstenmal gewählt, so daß die Physiognomie desselben einigermaßen verändert war; das Ministerium konnte auf keine feste Majorität rechnen. Sein Bestand war denn auch nicht von langer Dauer; die von Disraeli eingebrachte Budgetvorlage, welche vorzugsweise die Interessen der seit 1845 durch die freihändlerische Gesetzgebung geschädigten Berufsstände, also z. B. des Grundbesitzes und der Reederei, berücksichtigte, stieß auf so entschiedenen Widerstand, daß das Ministerium 17. Dez. seine Entlassung einreichen mußte. Graf Aberdeen ward darauf mit der Bildung eines neuen Kabinetts beauftragt. Er selbst ward erster Lord des Schatzes, Schatzkanzler Gladstone, dessen Wendung zur liberalen Partei nun ganz vollzogen war, Staatssekretär des Innern Lord Palmerston, des Auswärtigen Lord J. ^[John] Russell (für den im Februar 1853 Lord Clarendon eintrat, während Russell das Präsidium des Geheimen Rats übernahm). Von den 13 Mitgliedern des Kabinetts gehörten 5 den Peeliten, 5 den Whigs und 3 den andern liberalen Meinungsschattierungen an, so daß die neue Regierung mit einem dem 18. Jahrh. entlehnten Ausdruck als das "Ministerium aller Talente" bezeichnet wurde. Selten übernahm ein Kabinett unter so günstigen Verhältnissen die Verwaltung; sämtliche Neuwahlen zum Parlament fielen zu seinen gunsten aus, und die Stimmung des gesamten Landes war mit ihm. So verlief denn die Session von 1853, die 11. Febr. eröffnet wurde, auf das glatteste. Der Finanzplan Gladstones, welcher hauptsächlich eine Ausdehnung der Einkommensteuer auch auf die kleinern Einkommen und auf Irland ins Auge faßte und dafür eine ganze Reihe wenig einträglicher und unbequemer oder den Verkehr belästigender Abgaben aufhob oder ermäßigte, fand allgemeine Zustimmung und wurde mit großer Majorität (2. Mai) angenommen. Ebenso wurde die Kolonialpolitik der Regierung vom Glück begünstigt und mit Beifall begrüßt. In Asien und Afrika war nach dem Ende des Kaffernkriegs und dem günstigen Friedensschluß mit Birma (30. Juli 1853), das bedeutende Gebietsteile abtreten mußte (s. Birma, S. 970), die Ruhe hergestellt, und das immer kräftigere Aufblühen der australischen Kolonien förderte die Regierung auf das energischte. Die Entdeckung der Goldfelder in Neusüdwales und Victoria (1851) führte große Einwandererströme in diese Länder, die seit dem Aufhören der Deportation von Verbrechern den Charakter als Strafkolonien verloren. Die Regierung erkannte, daß auf Losreißung vom Mutterland gerichteten Bestrebungen am sichersten dadurch vorgebeugt werden könne, daß man den Kolonien eine freie, auf Selbstregierung begründete,