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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Handelsbilanz

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Handelsbilanz.

Handelsbilanz (Geichgewicht ^[richtig: Gleichgewicht] des Handels), das Verhältnis zwischen der Gesamteinfuhr und Gesamtausfuhr eines Landes. Auf die Ermittelung dieses Verhältnisses Gewicht zu legen, insbesondere den Wert der Gesamteinfuhr mit dem Werte der Gesamtausfuhr zu vergleichen und nach dem Resultat dieser Vergleichung den Volkswohlstand des betreffenden Landes zu beurteilen, hat man erst seit dem Aufkommen des Merkantilsystems (s. d.) angefangen. Die Anhänger des Merkantilsystems bezeichnen ein solches Verhältnis der Wareneinfuhr zur Warenausfuhr, bei welchem diese größer ist als jene, als eine günstige oder aktive H. und umgekehrt ein Verhältnis, wobei die Einfuhrwerte höher sind als die Ausfuhrwerte, als eine ungünstige oder passive H.; nur die erstere sehen sie als vorteilhaft für den Nationalreichtum an, weil sie wähnen, daß das Mehr der Ausfuhr mit Geld bezahlt werden müsse und so die Geldmenge der Heimat vermehrt, wogegen durch die passive H. dem Land Geld entzogen und somit dessen Verarmung herbeigeführt werde. Ohne die prinzipiellen Irrtümer des Merkantilsystems an dieser Stelle zu kritisieren, beschränken wir uns darauf, den heutigen Standpunkt der Wissenschaft in betreff der Beurteilung der H. kurz zu kennzeichnen. Die alte Schule hat geglaubt, aus dem Stande der H. auf das letzte Ergebnis der Volkswirtschaft, auf die Zunahme oder Abnahme des Gesamtvermögens, schließen zu können. Schon die formalen Grundlagen einer solchen Schlußfolgerung sind aber ganz und gar ungenügend, denn Gegenüberstellung der Ein- u. Ausfuhrwerte kann nur nach den Aufzeichnungen der Handelsstatistik und der Zollregister erfolgen; diese sind stets lückenhaft und genügen nicht, um den richtigen Ausdruck der eigentlich maßgebenden Thatsachen zu geben. Denn erstens liegt in der unvollkommenen Art der Angaben von Menge und Wert der über die Landesgrenzen gelangenden Waren eine stete Quelle des Irrtums; zollpflichtige Waren werden oft geschmuggelt, bei zollfreien ist die Kontrolle der Angabe eine lässige, und insbesondere wird der Export in dieser Beziehung weniger aufmerksam überwacht als der Import; ebenso bringt es die Einrichtung der Zolltarife mit sich, daß nicht jene weitreichende Spezialisierung der Waren erfolgt, welche zu genauen Wertangaben nötig wäre, und das Verfahren, nach welchem die Bewertung erfolgt, sei es die Deklaration oder die Feststellung der Werte durch die Finanz- oder statistischen Behörden, führt selbst bei der sorgfältigsten Verwaltung nur zu annäherungsweise richtigen Ergebnissen. Als zweites Moment tritt hinzu, daß regelmäßig die Waren bei der Ausfuhr aus dem Land, wo sie produziert wurden, mit einem geringern Marktwert erscheinen als bei der Einfuhr in demjenigen Land, wo sie konsumiert werden; denn dort sind sie im Überfluß vorhanden, hier werden sie gesucht; dort lasten vorzugsweise nur Produktionskosten, hier überdies noch alle Transport-, Speditions-, Versicherung- und kaufmännischen Spesen auf denselben. Aus diesen beiden Erwägungen ist erklärlich, daß ein handelsstatistisch nachgewiesener Überschuß der Einfuhrwerte, also eine scheinbar "ungünstige Bilanz", selbst in Ländern vorkommen kann, die thatsächlich eine Nettoausfuhr haben, und man muß einen Passivsaldo stets mit jenen Einschränkungen auffassen, welche durch die eben erwähnten Umstände geboten sind. Neben diesen formalen bestehen aber sachliche Gründe von größter Tragweite, um den Fehlschluß zu erkennen, welcher etwa aus der H. auf die Wirtschaftszustände eines ganzen Volkes gezogen würde. Internationale Wertübertragungen werden keineswegs ausschließend durch Ein- und Ausfuhr von Waren und Edelmetallen oder Geld, sondern durch eine ganze Reihe von Vorgängen veranlaßt, die einen gewissen aktiven oder passiven Saldo der auswärtigen wirtschaftlichen Beziehungen eines Volkes zur Folge haben. Thatsächlich setzt sich die auswärtige Wirtschaftsbilanz aus folgenden Hauptposten im Credit und Debet zusammen: 1) Einnahmen einer Volkswirtschaft für exportierte und Ausgaben derselben für importierte Waren und Edelmetalle; 2) Einnahmen für Frachtverdienst, Assekuranz etc. von Inländern im Ausland (inländischen Reedern, welche beispielsweise die Schiffahrt zwischen zwei ausländischen Häfen betreiben, oder inländischen Eisenbahngesellschaften, welche einzelne Strecken auf fremdem Territorium betreiben) und anderseits Ausgaben für die Fracht der auf Ausländern gehörigen Verkehrsanstalten eingeführten Waren. 3) Einnahmen aus den auf Rechnung von Inländern im Ausland betriebenen Unternehmungen (z. B. Ertrag einer mit deutschem Kapital in Österreich eingerichteten Spinnerei als Einnahme der deutschen Volkswirtschaft) und umgekehrt Ausgaben an Zinsen und Gewinnen der von Ausländern im Inland betriebenen Geschäfte. 4) Einnahmen an Zinsen und Kapitalrückzahlungen der an das Ausland gewährten Darlehen und umgekehrt Ausgaben für Verzinsung und Amortisierung der im Ausland aufgenommenen Anlehen. 5) Einnahmen aus jenem Aufwand, welchen Ausländer im Inland als Reisende, Einwanderer etc. machen (z. B. zu gunsten der Bilanz Frankreichs jene Summen, welche die in Paris lebenden Fremden dort zurücklassen, oder zu gunsten Amerikas die Kapitalien, welche die Einwanderer mitbringen), und umgekehrt Ausgaben für den Aufwand der im Ausland lebenden Inländer, Verlust von Kapital, das die Auswanderer mitnehmen, etc. 6) Außerordentliche Einnahmen und Ausgaben aus besondern einmaligen Anlässen, wie: Empfangnahme oder Abtragung von Kriegsentschädigungen oder im Ausland gemachter Kriegsaufwand oder Subventionen und Hilfsgelder. 7) Verschiedene Einnahmen und Ausgaben aus den von einem Land ins andre kommenden oder gehenden Pensionen, Legaten, Erbschaften der im Land wohnenden Fremden u. dgl. Die sämtlichen hier angeführten Posten müßten, sofern sie Einnahmen der Volkswirtschaft während eines gewissen Zeitraums sind, in das Aktivum oder "Credit", sofern sie Ausgaben sind, in das Passivum oder "Debet" derselben statistisch gebucht werden, damit man nach Ablauf dieses Zeitraums, z. B. eines Jahrs, beurteilen könnte, ob die Volkswirtschaft mit einem Saldo zu ihren gunsten oder ungunsten schließt. Dieser Saldo aber muß sich in den Wechselkursen (s. d.) zum Ausdruck bringen, d. h. deren günstigen oder ungünstigen Stand veranlassen, je nachdem er aktiv oder passiv ist.

Man sieht, wie verwickelt jene Veranlassungen sind, welche thatsächlich die Aktivität oder Passivität der Wirtschaftsbilanz bestimmen, und wie einseitig die merkantilistische Theorie von der H. war, welche nur einen einzigen, nämlich nur den ersten, der vielfachen oben angeführten Posten berücksichtigte. Um diese Erscheinungen auch in der wissenschaftlichen Terminologie präziser zu bezeichnen, unterscheidet man heute zwischen a) Warenbilanz (H. im engern Sinn), unter welcher die statistische Gegenüberstellung des Wertes der importierten und exportierten Waren während eines gewissen Zeitraums verstanden wird; b) Zahlungsbilanz (auch "Effekten-^[folgende Seite]