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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Handelskrisis

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Handelskrisis (von 1873).

J. 1869, zu einer Zeit, wo sich im übrigen Europa der Verkehr in ziemlich ruhigen Bahnen bewegte. Das Privatpublikum, vom hohen Offizier und Beamten bis herab zum Laufburschen, das weibliche Geschlecht nicht ausgeschlossen, wurde in die Börsenspekulationen in einem Maß hineingezogen, wie dies seit Law kaum der Fall gewesen war. Die Maschinerie des Gründungswesens: der Humbug der Prospekte, der Haussekonsortien, der "Einführungs"-Manipulationen, ward zur höchsten Vollkommenheit ausgebildet. Nachdem der Krieg eine kurze Unterbrechung herbeigeführt hatte, wurde schon 17. Dez. 1870 eine neue Gründung versucht, und als diese um das Hundertfache überzeichnet wurde, begann der Taumel von neuem. In der Zeit von 1867 bis zum "Krach" wurden in Österreich 1005 Konzessionen für Aktiengesellschaften erteilt. Von diesen Gründungskonzessionen wurden 682 in den Jahren 1866-73 ausgeführt und der weitaus größte Teil in den Jahren 1871-73 durch Aktienemission auf den Markt gebracht. Auf die einzelnen Jahre verteilt, ergibt sich folgende Tabelle:

Es wurden konzessioniert:

1867 1868 1869 1870 1871 1872 1873

Banken 6 9 28 10 23 84 15

Eisenbahnen 4 2 7 3 6 7 5

Industriegesellschaften 15 17 88 82 125 227 91

Baubanken - 2 9 2 12 41 38

Versicherungsgesellschaften 1 2 5 2 8 17 4

Schiffahrtsgesellschaften - - 4 2 1 - 1

Zusammen: 26 32 141 101 175 376 154

In den sieben Jahren zusammen wurden also konzessioniert: 175 Banken, 34 Eisenbahnunternehmungen, 645 Industriegesellschaften, 104 Baubanken, 39 Versicherungsgesellschaften und 8 Schiffahrtsgesellschaften mit einem Nominalaktienkapital von 4000 Mill. Gulden. Von diesen Gesellschaften sind wirklich zu stande gekommen: 143 Banken, 29 Eisenbahnunternehmungen, 415 Industriegesellschaften, 63 Baubanken, 28 Versicherungsgesellschaften und 4 Schiffahrtsgesellschaften; zusammen 682 Aktiengesellschaften mit einem Nominalaktienkapital von 2577 Mill. Gulden. Für diese Gründungen mußten (in Gulden österreichischer Währung) aufgebracht werden im J. 1867: 78¼ Mill., 1868: 84¼ Mill., 1869: 450 Mill., 1870: 124 Mill., 1871: 320¾ Mill., 1872: 1192¼ Mill. und 1873: 333 Mill.

Mit der Überspekulation auf dem Geld- und Effektenmarkt lief parallel eine Überstürzung auf dem Gebiet des Warenhandels, und hier wie dort hatte eine Überschätzung der natürlichen Spar- und Konsumverhältnisse Platz gegriffen. Am 31. März 1873 standen die Kurse am höchsten; sie repräsentierten damals lediglich für die in das amtliche Kursblatt aufgenommenen Papiere einen Wert von 7605 Mill. Gulden. Zwar zweifelte niemand an dem bevorstehenden Krach; doch hoffte man, das Kartenhaus werde sich bis nach Schluß der Wiener Ausstellung halten. Allein schon vier Tage vor dem auf 1. Mai festgestellten Eröffnungstermin machten sich die ersten Symptome der Ermattung geltend. Die Haussepartei räumte unter empfindlichen Verlusten das Feld, bereits traten Insolvenzen ein und kamen Exekutionen vor. Am 5. und 6. Mai machte die Entwertung der Kurse der Spekulationspapiere weitere Fortschritte. Am 7. Mai fanden Bankkonferenzen zur Vereinbarung von Rettungsmaßregeln statt. Am 8. Mai indes mehrten sich die Vorboten des Sturms, es kamen gegen 100 Insolvenzen an der Börse vor; die Kursverluste betrugen schon gegen 300 Mill. Guld., bis dann 9. Mai 1873 die Katastrophe des Zusammenbruchs mit einer Furchtbarkeit erfolgte wie nie vorher bei einer frühern Krisis. Die Fallimente überstürzten sich, die Selbstmorde erreichten eine hohe Zahl und traten in allen Ständen ein. Auf den höchsten Gipfel stieg die Verwirrung 9. Juni, also einen Monat nach Ausbruch der Krisis, durch die Zahlungseinstellung der Wechselbank, welche den Fall vieler andrer Institute nach sich zog.

Die Wirkung der Katastrophe auf die deutschen Börsen war eine tiefgreifende, aber nicht sofort entmutigende. Auch hier hatte man den Krach vorausgesehen, aber man hoffte denselben schnell zu überwinden. Erst nach dem Fall der Wiener Wechselbank nahm die Reaktion ein beschleunigtes Tempo an und fand Unterstützung in dem wachsenden Mißtrauen des Publikums außerhalb der Börse und in der Thätigkeit der Kontermine, welche bereits zu einer geschlossenen Partei gediehen war. Das Publikum drängte sich an den Markt, um sich seines Besitzes an Effekten schnell zu entledigen. Gute und schlechte Werte wurden mit demselben Maß gemessen und verworfen, Realisationen im geringsten Umfang warfen die Kurse um 30-50 Proz.; Exekutionsverkäufe seitens der Banken, welche ihren Kunden die Depots wegen ungenügender Bedeckung gekündigt hatten, drückten den Markt und vermehrten die Verwirrung. Am 28. Juli erreichte in Berlin die Krisis ihren ersten Höhepunkt, dem noch eine ganze Reihe von weitern Täuschungen folgen sollte; denn es gelang der Haussepartei im August und September, den Markt zu beleben und die Spekulationslust wieder anzuregen. Die künstlich hoch gehaltenen Eisenpreise in England verschafften den Bergwerksaktien eine Bevorzugung. Allein die Nachrichten, daß nunmehr auch in Nordamerika eine Krisis ausgebrochen, machten diesem luftigen Bau ein Ende. In Deutschland wirkten diese Nachrichten wegen der vermuteten übeln Rückwirkung auf alle europäischen Handelsverhältnisse so erschreckend, daß in den ersten Tagen fast jede Transaktion suspendiert war und eine Geschäftspause eintrat, welche erst 20. Sept. Manipulationen Platz machte, die dem Verkehr den Stempel der Panik aufdrückten. Die eingetretene Geldknappheit, eine Diskonterhöhung in England, der Fall der Quistorpschen Vereinsbank, die Fallimentserklärung eines Hauses in Hamburg riefen eine Verstimmung hervor, welche lange anhielt. Am 28. Okt. erreichte die Baisse ihren tiefsten Punkt. Jetzt endlich, gegen Ende des Jahrs, riß das Publikum sich von der Börse los. Die Kreise außerhalb der Börse, welche die Jagd nach dem Glück mitgemacht hatten, begannen sich ihres Besitzes an neugeschaffenen Effekten zu entledigen; die Börsensäle verödeten, und die spekulativen Bewegungen innerhalb derselben arteten zu einem Hasardspiel aus, welches die bürgerliche Gesellschaft nicht mehr interessierte. Mit dem Beginn des Jahrs 1875 übertrug sich jedoch die Krisis auf Gebiete, die man dem Wandel der Konjunkturen für entrückt gehalten hatte. Die Eisenbahnaktien waren es, welche den Ansturm auszuhalten hatten. Die Verwaltungen von Eisenbahnen waren seither nicht müßig geblieben, sondern hatten ihre Eisenbahnnetze erweitert und dem Verkehr neue Gegenden erschlossen. Die Steigerung der Kilometerzahl der deutschen Eisenbahnen betrug von 1871 bis 1874: 4735; das Anlagekapital, das sich 1871 auf 4,298,359,471 Mk., Ende 1874 auf 6,149,390,760 Mk. belief, wuchs um 1,851,031,289 Mk. oder 43 Proz., und dieser Zuwachs fiel meist auf die beiden Jahre 1872 und 1873. Man