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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Handelskrisis

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Handelskrisis (von 1873).

zweige erfaßt hat, zuerst Eisen und Kohle, dann die großen Textilindustrien, chemischen Industrien, die Fabrikation von Genuß- und Nahrungsmitteln, deren Zufuhr, die Eisenbahnen, den Schiffbau. Endlich hat noch keine Krisis so nachhaltige Wirkungen hervorgerufen wie die 1873er, denn die nachteiligen Einflüsse derselben machten sich bis zum Jahr 1879 geltend, und auch die im J. 1880 eingetretene Besserung zeigte durch ihre kurze Dauer, wie sehr die ganze Weltwirtschaft ins Mark erschüttert ist. War auch Wien derjenige Punkt, von welchem die Krisis ausging, so sind doch die tiefer liegenden Veranlassungen derselben im Deutschen Reich zu suchen. Die "Gründungsperiode" der Jahre 1871 und 1872 war für Deutschland fast eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Die politische Spannung, in welcher Deutschland seit zwei Jahrzehnten gelebt, die Ahnung bevorstehender wichtiger Ereignisse lähmten die industrielle Thätigkeit. Das Vertrauen auf eine ruhige Zukunft war verschwunden; man arbeitete nur für die Gegenwart und ließ die gesparten Kapitalien unbenutzt liegen. Diese wirtschaftliche Ruhe endete mit der Niederwerfung Frankreichs, mit welcher die Aussicht auf einen langen Frieden gegeben war. Deutschland empfand nun das Bedürfnis, die langjährigen Versäumnisse in Handel und Industrie durch verstärkte Thätigkeit wieder einzuholen, um auch nach dieser Richtung hin den andern vorausgeeilten Nationen ebenbürtig zu sein. Es blieb kein Zweig des geschäftlichen Lebens übrig, dessen sich nicht der Unternehmungsgeist bemächtigte. Die Gründungssucht nahm bald einen chronisch-epidemischen Charakter an. Unter den Auspizien des Aktiengesetzes vom 11. Juni 1870, das den Konzessionszwang beseitigte und so dem "wirtschaftlichen Aufschwung" die Wege ebnete, unter dem Taumel der Illusion, daß die zu zahlenden Milliarden Frankreichs sofort den deutschen Verkehr befruchten würden, schossen Bankinstitute zu verschiedenen Zwecken, Industriegesellschaften mit den buntesten Namen hervor, wurden Brauereien gegründet, Eisen- und Kohlenwerke erworben und in Betrieb gesetzt und Eisenbahnprojekte in großer Anzahl entworfen. So waren denn seit Mitte 1870 bis Ende 1872 in Deutschland 762 Aktiengesellschaften entstanden, von welchen 503 allein in das Jahr 1872 fallen, und noch die erste Hälfte des Jahrs 1873 sah 196 Gesellschaften entstehen. Das gesamte Aktienkapital berechnete sich auf mehr als 3600 Mill. Mk. Die Interessen der Börse waren mit den Schöpfungen der Gründungsära so eng verknüpft, daß die Lebensfähigkeit jeder einzelnen Gründung lediglich von der Willigkeit derselben abhing, sich mit ihr zu beschäftigen und sie zu patronisieren. Die Spekulation bemächtigte sich der Unzahl geschaffener Werte und brachte sie mit Erfolg auf den Markt. Mit dem Streben, die schaffende Kraft des erwachten Associationsgeistes für die Agiotage auszubeuten, fachte sie ihn zu immer neuen Anstrengungen an, um mit stets neuen Erzeugnissen von Werten das Gebiet des Börsenspiels zu erweitern. Die Größe der Gründergewinne verteuerte die Unternehmungen und stellte die Rentabilität von vornherein in Frage. Man entzog den bestehenden soliden Geschäften, dem Handel Kapitalien und legte sie fest, ohne die Möglichkeit einer Reproduktion in den nächsten Jahren voraussetzen zu können. Die Ausdehnung des Betriebs erheischte mehr Arbeitskräfte und schraubte die Löhne zu einer Höhe, daß die Konkurrenz mit dem Ausland geschwächt wurde. Für die Börse gab es überhaupt nur einen Maßstab, die Würdigkeit eines Papiers, seine "Marktfähigkeit", zu beurteilen: dies war ein hoher Kurs. Die Höhe des Kurses aber ward nicht durch Nachfrage und Angebot bestimmt, sondern hing davon ab, ob eine geeignete Stimmung für ein Papier gemacht und erhalten werden konnte. Die Bank- und Industriepapiere konnten nur so lange ihren Kurs behaupten, als sie nicht realisiert wurden; die Spekulation griff nun, um die Masse des ihr zuströmenden Kapitals zu bewältigen und "flottant" zu erhalten, zu dem Mittel der Krediterweiterung, das sie in ein ausgebildetes System brachte. Es entstanden Banken nur zu dem Zweck, sich eine Klientel zu schaffen, dieser mit unbegrenztem Kredit unter die Arme zu greifen und sie so zur Teilnahme an den Börsenoperationen zu befähigen und anzuregen. Diese Klientel konnte unter Hinterlegung einer gewissen Summe von Effekten auf Grund dieses "bedeckten Kredits" das Vielfache auf Kredit kaufen. Das Jahr 1873 übernahm mit dem reichen Inventar des Vorgängers auch eine große Zahl von Verpflichtungen, die es erfüllen mußte. In der ersten Epoche, welche bis zum Ausbruch der Krisis in Wien reicht, traten zu diesen Verpflichtungen neue Ansprüche, welche die beabsichtigten Erweiterungen des Betriebs vieler Gesellschaften und neue Gründungen an den Kapitalmarkt stellten. Im ersten Quartal betrugen die Emissionen 348 Mill. Mk. Nun wurde die Rückzahlung der französischen Kriegskontribution beschleunigt, und Frankreich mußte seine Zuflucht zum Kredit nehmen, den ihm Europa und namentlich England in reichem Maß gewährte. Dieser Kredit gab zu Wechseloperationen, zu "Wechselreitereien", Anlaß, zu denen deutsche und englische Häuser die Hand boten. Die Termine der Kontributionszahlungen fielen mit der Einlösung dieser Wechsel zusammen und nahmen jedesmal den Geldmarkt so stark in Anspruch, daß derselbe in Zuckungen verfiel. Dazu kam, daß die deutsche Regierung zur Prägung von Münzen große Summen Goldes brauchte, und so entstanden Schwankungen und Störungen auf dem Geldmarkt. Allmählich bildete sich ein Widerstand gegen die Aufnahme neuer Effekten und Emissionen heraus; man begann dieselben einer sorgfältigen Prüfung zu unterziehen. Die Jahresabschlüsse der Banken gaben der Reaktion die Waffen zum Angriff gegen diese Institute in die Hand. Die Bilanzen ermangelten der Klarheit und Durchsichtigkeit; die Erträgnisse setzten sich zu 22-25 Proz. durchschnittlich aus Gewinnen aus dem Effektenkonto und aus Konsortialbeteiligungen zusammen; der große Effektenbestand und die hohen Summen, welche die Schuldner repräsentierten, bargen Gefahren, welche durch die starke Konkurrenz noch vermehrt werden mußten. Alle diese Umstände gaben dem Zweifel an der Rentabilität und an der Sicherheit der Grundlagen, auf welchen die Institute errichtet waren, Nahrung und der Reaktion eine Gelegenheit, die bereits bestandene Abneigung gegen die Bankdevisen zu steigern und auch gegen Industriepapiere zu lenken.

Die Katastrophe aber ging von Wien aus, wo der Gründungsschwindel noch ärgere Orgien gefeiert hatte. Hier waren bereits in den Jahren 1863 und 1864 eine Anzahl von Banken neu geschaffen worden, die der Agiotage dienten; seit 1867 aber war das Gründungswesen zur Blüte gelangt. Der Umstand, daß sich Österreich von den Nachwirkungen des Kriegs schnell erholte, zeugte für dessen Lebenskraft und regte die Spekulation an. Die stürmische Hausseperiode hielt sechs Jahre an und wurde nur zweimal, durch die Erkrankung Napoleons und durch den Ausbruch des französischen Kriegs, unterbrochen. Ihren ersten Höhepunkt erreichte diese Schwindelperiode im