Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Handelskrisis

89

Handelskrisis (von 1873).

bis 1796, die stärkste Anwendung von Zwangspapiergeld, die je in einem Kulturstaat stattgefunden hat, mit sich brachte.

Das klassische Zeitalter der Krisen ist aber das 19. Jahrh., seit unter den Segnungen des Friedens die wirtschaftliche Entwickelung von Westeuropa mit Riesenschritten vor sich ging. Da sind zuerst zu nennen: die englischen Handelskrisen von 1815 und 1825. Die Anwendung der Dampfkraft in der Woll- und Baumwollindustrie, der Aufschwung der Kohlen- und Eisenindustrie und die rasche Ausbreitung der Kolonial- und Handelsmacht Großbritanniens hatten schon Ende des 18. Jahrh. eine ungeahnte Entfaltung der wirtschaftlichen Kräfte veranlaßt; selbst die Kontinentalsperre Napoleons trieb England nur noch mehr an, durch Pflege des Verkehrs mit den transatlantischen Ländern den Grund zu seiner Handelsblüte zu legen. Dadurch wurde nicht allein eine große Anzahl von industriellen Projekten, die teilweise einen schwindelhaften Charakter trugen, wachgerufen, sondern auch die Spekulation in Waren, namentlich in Baumwolle, geweckt und die Produktion in kurzer Zeit vervielfältigt. Als der Pariser Friede wieder normale Verkehrszustände herstellte, hatte man auf neues Aufblühen der Geschäfte übertriebene Hoffnungen gebaut, und durch das Zusammenwirken von Überproduktion, schlechten Ernten, beengtem Geldstand brach eine partielle Krisis aus, die während drei Jahren die schwersten Mißstände hervorrief. Viel tiefer als die Krisis von 1815 griff aber jene von 1825 in alle Kreise des geschäftlichen Lebens; nach einer wilden Gründungs- und Spekulationsepoche, an welcher die ganze Gesellschaft beteiligt war, und welche, wie zu Laws Zeiten, die unsinnigsten Unternehmungen aufnahmsfähig machte, erfolgte im Herbst 1825 der Zusammenbruch. Unzählige Fallimente von Banken, industriellen und kaufmännischen Firmen, eine vollständige Börsenderoute und Stockung alles Verkehrs waren die Folgen; die Verarmung griff tief in den ganzen Mittelstand, Arbeiterentlassungen und -Aufstände, Massenauswanderungen waren die letzten Wirkungen. Diese traurigen Erfahrungen hinderten nicht, daß sowohl in Großbritannien selbst als in den Vereinigten Staaten von Nordamerika ähnliche Katastrophen sich rasch wiederholten. So finden wir, daß das unsolide Gebaren der amerikanischen Zettelbanken dort in den Jahren 1814, 1830, 1837 und 1839 Katastrophen hervorrief, welche besonders das Bankwesen trafen, und daß sich auch in England die Überspekulation bald wieder auf das Gebiet des Zettelbankwesens warf und in den Jahren 1836 und 1839 Krisen veranlaßte, deren Wiederholung man durch den Erlaß der Peelschen Bankakte entgegenzutreten versuchte. Da in den 30er Jahren die Anwendung der Dampfkraft auf Verkehrsmittel schon zu einer gewissen technischen Vollkommenheit gelangt war, so wurde bald eine Überzahl von Eisenbahnprojekten entworfen, mit deren Ausführung man 1844 begann. Als aber in den beiden folgenden Jahren Kartoffelfäulnis, Mißwachs des Getreides, Fehlernte in Baumwolle eintraten, die Steigerung des Wohlstandes ausblieb und an eine Rentabilität der Eisenbahnen nicht zu denken war, folgte 1847 wieder eine größere H., die auch auf den Kontinent u. namentlich auf Süddeutschland ihre Rückwirkungen in empfindlicherm Grad äußerte als irgend eine frühere. Bei dieser Krisis begann sich schon die heutige Eigenart solcher Erscheinungen insofern vorzubereiten, als sie einen mehr generellen und universellen Charakter an sich trug; aber erst die große Krisis des Jahrs 1857 trat ganz allgemein auf.

Die Bewegungen des Jahrs 1848 hatten den Unternehmungsgeist eingeschüchtert. Auf dem Kontinent machte sich das Bestreben geltend, das Gold womöglich nach London oder Amerika zu schicken. Die heimische Konsumtion schränkte sich ein, und nur die exportierenden Industrien gediehen. So wurde ein starker Rückfluß des Goldes vorbereitet, der, als er eintrat, noch dadurch verstärkt wurde, daß inzwischen die Goldlager in Australien und Kalifornien entdeckt waren. Als nun im J. 1851 die kommerziellen Zustände in England und Nordamerika unsicher zu werden begannen, infolge des Überflusses an Edelmetall die Überspekulation sich regte und die kontinentalen Kapitalisten ihre dortigen Anlagen zurückzogen, regte sich auf dem Kontinent der Unternehmungsgeist, zumal der Staatsstreich in Frankreich ruhigere Zustände verbürgte. Das Kaiserreich hatte einen wirtschaftlichen Aufschwung verheißen; als sein Gehilfe führte Mirès das Prinzip der Aktienunternehmungen in größerm Maßstab in Frankreich ein. Bald entstand auch der Crédit mobilier. Seine Thätigkeit und die zur Durchführung gemeinnütziger Staatsunternehmungen aufgelegten Nationalsubskriptionen verbreiteten in weiten Kreisen die Lust am Börsenspiel. Österreich, welches am dringendsten darauf hingewiesen war, die wirtschaftliche Thätigkeit seines Volkes zu beleben, beeilte sich, dem französischen Beispiel zu folgen, und auch die deutschen Mittelstaaten teilten Zettelbankprivilegien mit vollen Händen aus; selbst in Preußen, wo die Regierung sich ablehnend dagegen verhielt, ähnliche Projekte zu fördern, wurde in der von der Diskontogesellschaft zuerst angewandten Form der Kommanditgesellschaft das Mittel gefunden, den Konzessionszwang zu umgehen. Im August und September 1856 trat ein Umschwung ein, die Banken nahmen Diskonterhöhungen vor; doch noch einmal flackerte die Hausse auf. Die Spekulation warf sich auf den Warenmarkt: Kaffee, Zucker, Baumwolle stiegen enorm im Preis, bis dann in der zweiten Hälfte des Jahrs 1857 ein Zusammensturz erfolgte, der sich über Amerika, England, Frankreich, Österreich und Deutschland ausdehnte und von den deutschen Plätzen Hamburg am härtesten traf. So darf man die 1857er H. als die erste bezeichnen, an welcher sich die innerste Natur und das Wesen der seither mit einer gewissen Regelmäßigkeit sich wiederholenden Erschütterungen der gesamten Weltwirtschaft verfolgen lassen. Wir erwähnen nur kurz die Geldklemmen in Frankreich 1863 und 1864, die Londoner Krisis vom Jahr 1866, welche zwar lokalisiert war, aber eine große Panik brachte und bedeutende Verluste nach sich zog, und die Katastrophe in New York 1869 (mit dem black friday vom 23. Sept.), verursacht durch die verkehrte Politik der Regierung, welche es unterließ, Staatspapiergeld einzuziehen, und wenden uns nun der Darstellung der letzten Krisis zu.

Die Krisis vom Jahr 1873.

Die Krisis von 1873 ist nach allen Merkmalen die größte Weltwirtschaftskrise geworden. Keine frühere hat eine so bedeutende territoriale Ausdehnung erfahren wie diese; von der Wiener Börse ausgehend, hat sie der Zeitfolge nach sich noch im J. 1873 über Italien, Rußland, Nordamerika, Deutschland, England, Holland, Belgien, einzelne Staaten von Südamerika und Australien ausgebreitet und in den folgenden Jahren die übrigen europäischen Länder und Ostasien mit in ihren Wirkungskreis gezogen. Ebenso charakterisiert sich dieselbe dadurch, daß sie fast alle großen Welthandels- und Industrie-^[folgende Seite]