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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Hessen-Kassel

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Hessen-Kassel (Geschichte bis 1835).

er bald durch den Abschluß des von Anfang an totgebornen mitteldeutschen Zollvereins (bis 1834), bald durch die Zolleinigung der nördlichen Landeshälfte mit Norddeutschland, der südlichen mit Bayern auszuweichen suchte. Die schädlichen Folgen dieser eigenwilligen Politik blieben nicht aus. Das Land wurde durch seine hohen Grenzzölle von den Nachbargebieten so gut wie isoliert, die partikularistischen Sonderzolleinigungen lösten sich nach wenigen Jahren wieder auf, und der Kurfürst mußte zufrieden sein, als ihm nach bedeutenden Verlusten für den Handel und die Industrie seiner Unterthanen von Preußen der Zutritt zum Zollverein später gewährt wurde. Die Willkür des ebenso eigenwillig wie sein Vater gearteten Wilhelm II. fand eine Stütze an der Gefügigkeit der Mehrzahl seiner Räte wie der Gerichte. Allein von Einfluß war neben einigen höfischen Kreaturen die kurfürstliche Mätresse, welche auf Kosten des hessischen Volkes mit in Mähren erkauften Gütern beschenkt und zur Gräfin von Reichenbach-Lessonitz erhoben wurde. Die treffliche und vom Volk aufrichtig geliebte Kurfürstin, eine preußische Prinzessin, nahm mit dem Kurprinzen infolgedessen ihren Aufenthalt erst zu Berlin, nachher zu Bonn und später zu Fulda.

Erteilung der Verfassung und Streit mit den Ständen.

Zu der großen Mißstimmung des Volkes über diese Vorgänge kam die Julirevolution von 1830, und es konnte unter diesen Umständen nicht fehlen, daß sie in Kurhessen zu Exzessen führte, die namentlich in Kassel, Hanau und Fulda stattfanden. Um diese Zeit lag der Kurfürst schwer erkrankt in Karlsbad danieder und kehrte erst 12. Sept. 1830 nach der Landeshauptstadt zurück, in der zehn Tage vorher ein Volksaufstand durch die Umsicht des Bürgermeisters und die Entschlossenheit der Bürgergarde im Keim erstickt worden war. Unter dem Druck der infolge eines hohen Notstandes täglich wachsenden Aufregung im Volk genehmigte der Kurfürst schon am folgenden Tag die Einberufung der Landstände, welche auch wirklich 16. Okt. zusammentraten und zum erstenmal auch Abgeordnete der bisher nicht vertretenen Grafschaft Schaumburg, der Fürstentümer Hanau und Fulda und der Grafschaft Isenburg unter ihren Mitgliedern zählten. Die Frucht dieses Landtags war die Verfassungsurkunde, die 5. Jan. 1831 vom Kurfürsten unterzeichnet wurde. Sie war verfaßt auf Grund eines von der Regierung Anfang Oktober 1830 den Ständen vorgelegten Entwurfs und hatte während der Beratung noch eine Reihe von Verbesserungen erhalten, so daß sie aus der ständischen Beratung als eine der trefflichsten und freisinnigsten in ganz Deutschland hervorging. Die bisherige Vertretung der Stände nach Kurien hatte man fallen lassen, das Einkammersystem beibehalten, den verschiedenen Ständen die ihnen gebührende Vertretung gelassen, die Wahlperiode, abgesehen von Kammerauflösungen, auf drei Jahre festgesetzt. Ein ständiger Landtagsausschuß hatte die ständischen Rechte in der Zwischenzeit zwischen den einzelnen Sessionen wahrzunehmen. Diese Rechte bestanden in der Mitwirkung bei der Gesetzgebung und der Steuerbewilligung. Das Staatsbudget ward alle drei Jahre vorgelegt und auf die nächsten drei Jahre bewilligt. Die volle Verantwortlichkeit der Minister diente als Bürgschaft für ein verfassungsmäßiges Regiment. Infolge des Erlasses dieser Verfassung, und da der Kurfürst auch mit seiner Gemahlin ausgesöhnt schien, herrschte allgemeine Freude, und das Volk sah einer glücklichen Zukunft entgegen. Aber der Einfluß der Gräfin Reichenbach, welche nach Kassel zurückkehrte, bewog den Kurfürsten, seine Residenz nach Hanau zu verlegen und dem Kurprinzen Friedrich Wilhelm die Mitregentschaft und zugleich, bis er selbst in die Hauptstadt zurückkehren werde, die alleinige Regierung zu übertragen, was 30. Sept. 1831 durch Gesetz publiziert ward, worauf 7. Okt. der Kurprinz-Mitregent seinen Einzug in Kassel hielt.

Der erste Landtag nach der neuen Verfassung, 11. April 1831 eröffnet, zeigte sich nach allen Seiten hin außerordentlich thätig. Als aber im Landtag über den unerträglichen Druck, unter dem die Presse gehalten ward, sowie über die Ausnahmebeschlüsse des Bundestags Beschwerde erhoben ward, erfolgte 26. Juli die Auflösung des Landtags. Auf dem zweiten, auf 26. Jan. 1833 einberufenen Landtag erhob sich gleich nach Beginn der Session Streit über den Urlaub für die Staatsbeamten, die Mitglieder des Landtags waren. Die durch die Urlaubsverweigerung herbeigeführte Verzögerung der Eröffnung des Landtags bis 8. März gab Anlaß zu förmlicher Klagerhebung gegen den Minister Hassenpflug; die Regierung aber antwortete auf den am 18. März von den Ständen gefaßten Beschluß, daß dem Eintritt der Beamten auch ohne speziellen Urlaub nichts entgegenstehe, mit einer abermaligen Auflösung derselben. Auch auf dem dritten, auf 15. April 1833 einberufenen, aber erst 10. Juni eröffneten Landtag blieben die Mißhelligkeiten zwischen Ministerium und Ständen nicht aus, indem die letztern die frühern Anklagen gegen den Minister Hassenpflug nicht nur wieder aufnahmen, sondern auch neue gegen ihn erhoben, denen indes das Oberappellationsgericht keine Folge gab. Friedlicher schien der Landtag für die zweite Finanzperiode von 1834 bis 1836 verlaufen zu sollen. 1834 ward als das wichtigste Werk eine Gemeindeordnung zu stande gebracht, welche, vier Jahrzehnte hindurch unverändert erhalten, den Stadt- und Landgemeinden einen verhältnismäßig hohen Grad von Selbständigkeit gewährte. Auch nach andern Richtungen machte sich ein frisches Vorwärtsstreben auf Grund der endlich erzielten größern Übereinstimmung zwischen Regierung und Kammer bemerkbar. Vor allem machte sich der Finanzminister Meisterlin um die Regelung des verkommenen Finanzwesens, die Herstellung eines festen Jahresetats, die Vereinfachung der komplizierten und schwerfälligen Verwaltung, die Erhöhung der Einkünfte durch Ersparnisse und Hebung der Einkommensquellen hochverdient. Aber er wurde bald durch die reaktionären Einflüsse des Hofs verdrängt und durch Motz ersetzt. Hassenpflug vereinigte nun das Departement der Justiz mit dem des Innern, so daß er unbehindert im Schoß des Ministeriums selbst seine Interpretationskünste an der Verfassung üben und immer neue Konflikte mit der Ständeversammlung herbeiführen konnte. Noch mehrere Monate tagte die Versammlung, ohne, durch Hassenpflug fast in jeder Beziehung gehemmt, irgend welche ersprießliche Thätigkeit entwickeln zu können; dann (6. April 1835) kündete ihr der Minister ihre Entlassung laut landesherrlicher Vollmacht an.

Inzwischen hatte der durch den Tod des Landgrafen Viktor Amadeus von Hessen-Rheinfels-Rotenburg (12. Nov. 1834) bewirkte Heimfall des beträchtlichen Grundbesitzes desselben, welchen die Regierung als Fideikommiß des Kurhauses in Anspruch nahm, zu neuer Verwickelung zwischen ihr und den Ständen Anlaß gegeben. Überdies erhoben sich zwischen dem bleibenden ständischen Ausschuß und dem Ministerium Differenzen, die 24. Nov. 1835 zu einer neuen