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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Kassel

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Kassel.

ab. An seiner Stelle ließ Kurfürst Wilhelm I. 1820 den großartigen Neubau der Kattenburg, 173 m lang, 126 m breit, in Angriff nehmen, der aber nie über das Erdgeschoß fortgesetzt wurde. Die moderne Ruine wurde in der neuesten Zeit abgetragen, um dem großartigen Justiz- und Regierungsgebäude Platz zu machen. Neben dem ehemaligen kurfürstlichen Palais steht das 1769-79 erbaute, an der Fassade 95 m lange Museum Fridericianum, dessen Frontispiz auf sechs hohen ionischen Säulen ruht und mit den Bildsäulen der Philosophie, Astronomie, Geschichte, Architektur, Malerei und Bildhauerkunst geziert ist. Dasselbe enthält eine der größten Sammlungen chronologisch geordneter Gipsabgüsse nach der Antike, reiche Sammlungen von Naturalien und Kunstgegenständen (antike Statuen, Bronzen, Gemmen, Münzen, Holzschnitzereien des Mittelalters und der neuern Zeit, altdeutsche Waffen etc.) und in einem 91 m langen Saal die Landesbibliothek (ca. 100,000 Bde.), unter deren vielen wertvollen Handschriften das "Hildebrandslied" als die bedeutendste hervorzuheben ist. (Von 1814 bis 1829 waren die Gebrüder Grimm an dieser Bibliothek angestellt.) An das Museum schließt sich die Sternwarte an, wozu ein Thorturm der alten Festungswerke benutzt ist. Dieser Turm enthält eine reiche Sammlung mathematischer, physikalischer und optischer Instrumente. Bemerkenswert sind ferner: das aus verschiedenen Teilen bestehende Schloß Bellevue; die neue, im italienischen Renaissancestil aus den Steinen der abgetragenen Kattenburg erbaute Gemäldegalerie mit Werken von Rubens, van Dyck, Jordaens, F. Hals, Rembrandt, Tizian, Ruisdael, Ribera und andern Meistern ersten Ranges, davor das Denkmal des Oberpräsidenten v. Möller; das Ständehaus, das 1770 erbaute Rathaus, das öffentliche Schlachthaus etc.

Die Bevölkerung beläuft sich (1885) mit der Garnison (2 Infanteriebataillone Nr. 83, 4 Eskadrons Husaren Nr. 14, 2 Abteilungen Feldartillerie Nr. 11 und ein Trainbataillon Nr. 11) auf 64,083 Seelen (gegen 46,378 im Jahr 1870), darunter 56,684 Evangelische, 5529 Katholiken und 1870 Juden. Industrie und Handel befinden sich in stetigem Wachsen. K. hat Eisengießereien und Maschinenfabriken (darunter die Henschelsche Maschinenfabrik mit 1600 Arbeitern), 2 Anstalten für den Bau von Eisenbahnwagen, Fabrikation von mathematischen Instrumenten, Pianofortes, Thonwaren, Tabak und Zigarren, Federstahl, Korsett- und Krinolinfedern und Metallwaren, Papier und Buntpapier, Gelatine und Leim, Faßwaren, Glacehandschuhen, Wichse etc., Jutespinnerei und -Weberei, Kartonagenfabriken, eine große lithographische Kunstanstalt, Bierbrauerei etc. Von Bedeutung sind auch der Gartenbau und die Kunstgärtnerei. Der Großhandel, unterstützt durch eine Handelskammer, eine Reichsbankstelle und andre Geldinstitute, erstreckt sich auf Getreide, Kleesaat, Mühlenfabrikate, Wolle, Kolonialwaren, Baumaterialien und Eisenwaren, Felle, Leder, Lumpen etc. Alljährlich finden in K. 2 Messen und ein Wollmarkt statt. Bemerkenswert ist auch die große Zahl von Buch- und Kunsthandlungen. Der Verkehr in der Stadt und mit den bedeutenden Orten der nächsten Umgebung wird gehoben durch eine Straßenbahn und drei Pferdebahnlinien; eine Hebung des Flußverkehrs steht durch die in Aussicht genommene Kanalisierung der Fulda von K. bis Münden in nächster Zeit zu erwarten.

K. hat 2 Gymnasien, ein Realgymnasium, eine Realschule, eine Gewerbe- und Handelsschule, ein israelitisches Lehrerseminar, ein Lehrerinnenseminar, 5 höhere Töchterschulen, eine Akademie der bildenden Künste, einen Verein für hessische Geschichte und Landeskunde, einen Gartenbauverein, eine Kriegsschule, eine Fachschule für Mädchen, ein Gewerbemuseum, eine Naturaliensammlung, ein königliches Hoftheater etc. An andern Anstalten befinden sich dort: eine Strafanstalt, ein Diakonissenhaus, ein Kinderhospital, eine Kaiserin Augusta-Stiftung (zur Ausbildung von Schwestern vom Roten Kreuz), eine Irrenpfleganstalt, eine Entbindungsanstalt u. a. Die städtischen Behörden zählen 13 Magistratsmitglieder und 24 Stadtverordnete. An andern Behörden befinden sich dort: das Oberpräsidium für Hessen-Nassau, die Regierung und das Konsistorium des Regierungsbezirks und das Landratsamt des Landkreises K., ein Oberlandes- und ein Landgericht, eine Provinzial-Steuer- und eine Oberpostdirektion, eine Forstinspektion, ein Hauptsteueramt, ein Bergrevier, eine Generalkommission zur Ablösung von Servituten, ein Landesrabbinat etc. Außerdem haben dort ihren Sitz: das Generalkommando des 11. Armeekorps, das Kommando der 22. Division, der 43. und 44. Infanterie-, der 22. Kavallerie- und der 11. Feldartillerie-Brigade. Zum Landgerichtsbezirk K. gehören die 34 Amtsgerichte zu Abterode, Allendorf, Arolsen, Bischhausen, Eschwege, Felsberg, Friedewald, Fritzlar, Grebenstein, Großalmerode, Gudensberg, Hersfeld, Hofgeismar, Karlshafen, K., Korbach, Lichtenau, Melsungen, Naumburg i. H., Nentershausen, Netra, Niederaula, Niederwildungen, Oberkaufungen, Rotenburg, Schenklengsfeld, Sontra, Spangenberg, Veckerhagen, Volkmarsen, Wannfried, Witzenhausen, Wolfhagen und Zierenberg.

In der nächsten Umgegend (s. das Spezialkärtchen auf der Karte "Hessen-Nassau") von K. bieten zunächst die Friedhöfe, dort "Totenhöfe" genannt, manche Stätte von Interesse. Auf dem Alten Friedhof, jetzt fast innerhalb der Stadt gelegen, ruht Johannes v. Müller; ein Denkmal auf dem Grub ließ ihm 1852 König Ludwig I. von Bayern errichten. Der Neue Friedhof vor dem Holländischen Thor birgt die Ruhestätte Ludwig Spohrs. Von besonderm Reiz ist die Karlsaue, ein Park, welcher den südwestlichen hoch gelegenen Teil der Stadt in der Tiefe begrenzt, sich eine weite Strecke längs der Fulda hinzieht und reich ist an herrlichen Baumgruppen. An seinem Eingang vom Auethor aus befindet sich das von Professor Kaupert in Frankfurt a. M. ausgeführte Hessendenkmal, ein sterbender Löwe in weißem Marmor, auf einem Sockel von Basaltkonglomerat, zum Gedächtnis der auf dem Forst vor dem Leipziger Thor auf Befehl Napoleons I. während der westfälischen Zeit erschossenen hessischen Patrioten. Der Park wurde unter dem Landgrafen Karl von dem Versailler Gartenkünstler Lenôtre 1709 angelegt und enthält das schön restaurierte, im echtesten Rokokostil erbaute Orangerieschloß und in einem der beiden später hinzugefügten Seitenpavillons das sogen. Marmorbad mit guten Skulpturen von Monnot. Von dem Park aus gelangt man, der Frankfurter Allee folgend, nach dem stillen Schönfeld (auch Augustenruh genannt), Sommerschlößchen der verstorbenen Kurfürstin Auguste. Entfernter liegen die Schlösser Wilhelmshöhe (s. d.) und das von dem Landgrafen Wilhelm VIII. 1753 im italienischen Stil erbaute Schloß Wilhelmsthal.

[Geschichte.] Die erste Kunde von der Stadt K. datiert von 913, wo König Konrad I. hier verweilte; es heißt damals Cassala. Kaiser Heinrich II. schenkte