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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Kirche

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Kirche (die christliche K. im 9.-13. Jahrhundert).

in Augustins Büchern "vom Staate Gottes" zum klassischen Ausdruck gekommen: als dem bereits gegenwärtigen Reiche Gottes, der Verwirklichung der obersten sittlichen Idee, dem höchsten Gut haben ihr sich alle andern Lebenssphären einfach unterzuordnen, und namentlich kann auch der Staat nur durch solche Unterordnung unter ein höheres Ziel Absolution für seine sündigen Ursprünge und niedrig menschlichen Zwecke finden. So kam die K. dazu, die Bewähr für ihre göttliche Mission bald genug im Sieg über den Staat zu suchen. Zwar in den Jahrhunderten nach Karl d. Gr. erscheint auch sie vielfach in den allgemeinen Verfall hineingezogen, durch welchen die karolingischen Kulturansätze so rasch wieder verschüttet und begraben worden sind. Das dunkle Jahrhundert ist auch für die K. ein solches gewesen. Der Papst (s. d.), dessen Machtstellung bald den hervorragendsten Gradmesser für die Tiefe und Kraft der von der K. auf das Völkerleben ausgehenden Wirkungen darstellen sollte, erscheint zu Anfang dieses Zeitraums noch als Lehnsmann des Kaisers und wird auch im weitern Verlauf mehr als einmal nach dessen Willen gewählt, ja geradezu von ihm ein- oder auch abgesetzt. Zugleich sah sich der Nachfolger St. Peters in alle die Parteihändel und blutigen Raufereien hineingerissen, welche damals die Geschicke Italiens entschieden, und das halbe Jahrhundert der Pornokratie steht in der Geschichte da wie eine bittere Satire auf alle Heiligkeits- und Unfehlbarkeitsansprüche, welche der römische Stuhl, ja die christliche K. überhaupt erheben mochte.

Aber die Not der Zeit, welche das Übel geschaffen hatte, brachte auch die Heilung; sie stärkte den Einheitsdrang der K., und bald war diese Glaubens- und Verfassungseinheit dasjenige Ideal der Völker des christlichen Abendlandes, welches der Verwirklichung am nächsten gebracht schien. Aber doch nicht das einzige unter den realisierten Idealen. Ein andres war ihm sogar zuvorgekommen; es war wieder das Mönchtum, aus dessen Schoß erst jenes stahlharte Papsttum hervorgegangen ist, welchem in der zweiten Hälfte des 11. Jahrh. der Sieg beschieden war. Das karolingische Zeitalter kennt die Klöster zumeist als Lehen und Erben weltlicher Herren; die hohe Geburt und Stellung vieler Äbte, die Gelehrsamkeit, die in nicht wenigen Klöstern ihren Sitz aufgeschlagen hatte, die Reichtümer, die sich hier ansammelten, boten keine Entschädigung für die zunehmende Einbuße an innerm Gehalt. Aber jener Geist der Weltverachtung und Entsagung, daraus das klösterliche Leben ursprünglich hervorgegangen war, entsprach so manchen Neigungen auch der germanischen und romanischen Völker, welche sich jetzt an der Spitze der Christenheit bewegten. Nimmermehr vermochte ein herabgekommenes, verwildertes Mönchtum auf die Dauer seinen Kredit zu behaupten. Daher eine lange Reihe von mehr oder weniger erfolgreichen Versuchen, dem Kloster seine Stellung und Bedeutung durch Erneuerung und Schärfung der Regel des heil. Benedikt zu sichern, endlich die energische Konzentration innerhalb des Ordens selbst durch die Kongregation von Cluny, daraus jener Hildebrand hervorgegangen ist, in dessen Persönlichkeit und Schöpfungen das mönchische Ideal der Weltverleugnung mit dem kirchlichen Ideal der Weltbeherrschung sich verbinden sollte. So hat von Cluny aus das Mönchtum sich des kirchlichen Regiments bemächtigt; es hat zuerst die Weltkirche dem eignen Vollkommenheitsideal angenähert, um sich dann selbst in der Gestalt der Bettelorden diesem erneuerten Papsttum unter Innocenz III. als wirksamstes Organ der Mission, Volksbelehrung und Ketzerbekämpfung zur Verfügung zu stellen.

Diese unter dem monarchischen Haupt zusammengefaßte K. war jetzt fragelos die erste Macht der Zeit. Sie allein spendete den Völkern des Abendlandes jahrhundertelang sämtliche geistige Nahrung und sittliche Bereicherung. Während auf staatlichem und bürgerlichem Gebiet die Christenheit sich möglichst differenzierte und nicht bloß jede Nation, sondern auch jeder Stand, jede Stadt, jede Genossenschaft danach strebte, möglichst für sich da zu sein, hielt die allenthalben in wesentlich gleichen Kultusformen zur Erscheinung kommende K. kraft derselben immer strenger hierarchisch zugespitzten Verfassung die auseinander strebenden Massen zusammen. In alle Verhältnisse des mittelalterlichen Staats ragte sie hinein, in alle Völkerkämpfe und Bürgerkriege mischte sie sich, oft genug nur, um ihr eignes Interesse zu wahren, aber nur selten, ohne in diesen zerrissenen Menschenhaufen die Ahnung erweckt und aufgefrischt zu haben, daß sie alle im Grund eine christliche Völkerfamilie zu bilden und gewisse Heiligtümer hoch zu halten und zu wahren haben, welche der damaligen Menschheit ohne die einseitig religiöse Fassung, darein die K. sie gebracht hatte, nur allzu leicht verloren gegangen wären.

Vierte Periode: bis zur Reformation.

In der zweiten Hälfte des Mittelalters, von den Zeiten der kulminierenden Papstmacht an, treten Licht und Schatten sich schon viel schärfer entgegen. Der Glanz des abendländischen Priesterstaats wirkt blendender, zumal seit dem Sieg über die Hohenstaufen; aber auch die Opposition nimmt weitere Dimensionen an, zeigt ein immer ernsteres und entschlosseneres Gesicht. Im Beginn der Periode tritt uns die K. auf dem großen Laterankonzil von 1215 unter dem Präsidium des Papstes Innocenz III. (1198-1216) auf der höchsten Staffel der Machtvollkommenheit entgegen, die sie je erstiegen hat. Die von den Päpsten ins Leben gerufenen Kreuzzüge hatten das Ansehen des Statthalters Christi an ihrem Teil gesteigert und teilweise selbst im Orient befestigt. War auch Jerusalem wieder verloren gegangen, so war dafür in Konstantinopel das lateinische Kaisertum aufgerichtet, und der byzantinische Patriarch ward in Rom ernannt. Die gleichfalls von hier aus geleiteten Könige Europas verglich Innocenz mit dem Monde, der sein Licht von der Sonne, die in Rom strahlt, zu Lehen trägt. Der K. und ihrer Herrlichkeit dienten die Waffen der Völker; sogar das Rittertum nahm religiöse Farbe und Weihe an in den geistlichen Ritterorden. Der K. diente aber auch die Wissenschaft in der Scholastik. Hat die letztere sich auch nicht mehr produktiv auf dem Gebiet der Glaubenslehre erwiesen (es sei denn im Artikel von den Sakramenten, der erst im Verlauf des Mittelalters allseitige Durchbildung empfing), so bestand doch der höchste Triumph dieser spezifisch mittelalterlichen Schulgelehrsamkeit wie in einer vollendeten Technik des Denkens, so weiterhin in der Dienstbarmachung und Ausbeutung dieser formalen Fertigkeit im Interesse der Kirchenlehre. Als Albert d. Gr. und Thomas von Aquino (1224-74) den großen Denker des Altertums, Aristoteles, der für das spätere Mittelalter die Summe alles erreichbaren menschlichen Wissens repräsentierte, glücklich vor den Triumphwagen der K. gespannt hatten, schien in der Geschichte des menschlichen Forschens, Wissens und Könnens ein Höchstes und Letztes erreicht, und es blieb nur der Wunsch übrig, die Sonne der