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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Kirchenpolitik

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Kirchenpolitik (12.-17. Jahrhundert).

gab sich ein plötzlicher Aufschwung nicht bloß des kirchlichen Selbstbewußtseins, sondern auch seiner sozialen Machtmittel; nach einer Übergangsperiode gegenseitigen Ringens wurde der Staat von der kirchlichen Genossenschaft für lange unterjocht. Das in und von der Kirche damals zur Geltung gebrachte kuriale oder papale System beruht auf dem Satz, der Papst sei Stellvertreter Christi, und fordert demgemäß seitens der übrigen Kirchenobern die Anerkennung, daß niemand von ihnen kirchliche Regierungsgewalt besitzen könne, außer auf Grund päpstlicher Vollmacht, seitens der christlichen Staatsgewalten aber die Anerkennung, daß sie jedem vom Papst in Christi, d. h. Gottes, Vertretung gestellten Verlangen als Christen zu gehorchen haben. Diese Herrschaft der Kirche über den Staat dauerte so lange, als im Occident auch die gesamte geistliche Kultur von der Kirche vertreten war. Als aber aus ihrer lateinischen Einheit die modernen nationalen Litteraturen sich entwickelten, lockerte sich gleichzeitig das Regiment der Kirche: die Bischöfe entzogen sich der römischen Kurie, und die Staatsgewalten erkannten die Unbedingtheit der kirchlichen Oberherrschaft nicht mehr an. Die Päpste hatten, während ihrer Residenz zu Avignon (1305-78) thatsächlich vielfach von den französischen Königen abhängig, die dringend nötige kirchliche Reformation auf unverantwortliche Weise verabsäumt. Dem gegenüber erklärten jetzt die Bischöfe sich auch ihrerseits selbstverantwortlich; sie behaupteten, als Generalkonzilium über dem Papst zu stehen (sogen. Episkopalsystem), und nahmen auf den großen Konzilen zu Konstanz (1414-18) und zu Basel (1431-43) jene Reformation in ihre eigne Hand. Die Staatsgewalten aber begannen die Geltung neuer kirchlicher Anordnungen in ihrem Land von staatlicher Genehmigung abhängig zu machen. Die Staatseinrichtungen des landesherrlichen "Placet" (regium exequatur) und der an die Staatsbehörden eröffneten Beschwerde wegen Mißbrauchs der Kirchengewalt (recursus tanquam ab abusu) treten in Spanien seit dem zweiten Dritteil des 14. Jahrh., in Frankreich und in deutschen, zuerst städtischen Territorien um weniges später auf. Das Deutsche Reich als Ganzes, wenn es auch den Anspruch des Papstes auf Erteilung der Kaiserwürde zurückwies (Kurverein zu Rhense 1338) und an die Kirche wegen weltlicher Rechtsverweigerungen zu appellieren verbot (Goldene Bulle 1356), war freilich in jener Zeit schon zu wenig mehr der lebendige Träger deutscher Staatsgedanken, als daß es deren umfänglichere Vertretung der kirchlichen Genossenschaft gegenüber hätte übernehmen können. Es hatte die Durchführung der Staatsidee im wesentlichen schon an die Territorialgewalten abgegeben, welche nunmehr ein Aufsichtsrecht über die Kirche in Anspruch nahmen.

Die Theorie, daß der Staat nicht nur unabhängig von der Kirche, sondern diese vielmehr verpflichtet sei, sich ihm unterzuordnen, ja einzuordnen, wurde im 15. Jahrh. von den Hussiten, in dem nächstfolgenden Jahrhundert aber von Luther wieder aufgenommen. Die Reformation brachte in allen protestantischen Territorien das Kirchenregiment an die Landesherrschaften. Sie war der erste praktisch durchgeführte Versuch des Staats, eine selbständige Stellung zur Kirche zu nehmen. Das zu Grunde liegende Prinzip einer religiösen Pflicht der Staatsobrigkeit, für richtigen Gottesdienst im Lande zu sorgen, hatte indes noch einen konfessionell-kirchlichen Charakter. Als daher die religiösen Motive des 16. Jahrh. allmählich zurücktraten und man sich humanistisch gewöhnte, auch die Politik unmittelbar aus den Alten zu lernen, ersetzte man jenes religiöse Prinzip vielfach durch die antike Idee, daß es in der Natur des Staats liege, auch die religiöse Einheit seiner Bürger zu bedingen. Diese in späterer Zeit als Territorialismus bezeichnete Auffassung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche wurde wissenschaftlich von Hobbes, Spinoza, vor allen von Grotius vertreten. Aber dieser territorialistische Staat war ebenso unduldsam aus politischen Gründen, wie es der landeskirchliche aus religiösen gewesen war: beide litten nur Eine Kirche im Land. Nachdem dann der Westfälische Friede (1648) den beiden deutschen Hauptkonfessionen ihren kirchlichen Besitzstand von 1624 garantiert hatte, wurde es in einer Mehrzahl deutscher Staaten zur politischen Notwendigkeit: sei es protestantische oder katholische, sei es zweierlei protestantische Kirchen zugleich im Land zu haben, und mehr und mehr machte sich jetzt folgende Auffassung geltend: Die Kirchen sind Privatvereine, Kollegia, deren es in einem Staate die verschiedensten nebeneinander geben kann. Sie werden von demselben geschützt, zugleich aber im Interesse des öffentlichen Wohls beaufsichtigt und, wenn nötig, in der Freiheit ihrer Bewegung umgrenzt. Möglich, daß der Staat sich bewogen findet, einen einzelnen Kirchenverein ganz zu verbieten (reprobatio); möglich, daß er andern die Grenzen jener Bewegung enger oder weiter zieht; möglich, daß er einen oder mehrere sogar mit Privilegien ausstattet: immer behält er neben seiner Pflicht, sie zu schützen (jus advocatiae), das Recht, sie zu beaufsichtigen und eventuell zu beschränken (jus inspectionis et cavendi). Dies zusammen macht seine Kirchenhoheit (jus circa sacra) aus. Wo das Staatsoberhaupt außerdem auch noch das Recht hat, den Verein in seinen innern Verhältnissen zu leiten, ist das staatliche Kirchenregiment (Kirchengewalt, jus in sacra) von jener Kirchenhoheit wohl zu unterscheiden. Diese von Pufendorf stammende, später besonders von Chr. Matth. Pfaff vertretene und von der ganzen Reihe der Naturrechtslehrer angenommene Theorie heißt Kollegialismus. Sie hat das große Verdienst, für das Verhältnis des Staats zur Kirche ein richtigeres Prinzip, das der Toleranz, aufgestellt zu haben, welches, von allen modernen Staaten angenommen, das heutige Staatskirchenrecht beherrscht. Allerdings hat die römisch-katholische Kirche das Toleranzprinzip niemals förmlich anerkannt, wie sie schon das reformatorische Landeskirchentum nicht anerkannte; sie hat vielmehr allen seit dem 14. Jahrh. gegen sie erhobenen Widersprüchen gegenüber ihr altes Kurialsystem festgehalten. Als im 16. Jahrh. von einer Reihe deutscher Landesherren die lutherische Bewegung in Schutz genommen wurde, auch nachdem sie vom Papst für eine ketzerische erklärt worden war, machte die Kurie das alte Ketzerrecht geltend und erreichte, daß im Wormser Edikt von 1521 dasselbe reichsseitig angewandt ward. Der Kaiser und die katholisch gebliebenen Fürsten hatten aber gegenüber der schon seit dem 15. Jahrh. gewonnenen landespolizeilichen Stellung der Territorialherren die Macht nicht, es durchzuführen, sondern erkannten im Augsburger Religionsfrieden von 1555 und, nach einem erneuten Versuch, im Westfälischen Frieden von 1648 die protestantische Religionsübung im Reich reichsgesetzlich an. Diese Friedensbestimmung erklärte jedoch der Papst in der Bulle Zelo domus Dei vom 20. Nov. 1648 für null und nichtig, und er hat die Verwerfung der Toleranz bis heute festgehalten (vgl. "Syllabus errorum" vom