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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Kirchenpolitik

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Kirchenpolitik (18. und 19. Jahrhundert).

8. Dez. 1864, Nr. 77, 78). Auf der andern Seite muß aber die römische Kirche thatsächlich mit dem Protestantismus leben; sie muß in Staaten mit einer Bevölkerung von verschiedenem Glaubensbekenntnis eine Art und Weise des Nebeneinanderbestehens (modus vivendi) finden, und sie muß namentlich einer protestantischen Regierung gegenüber ihre Bestrebungen und ihre ganze Haltung den staatlichen Verhältnissen anpassen oder doch mit diesen rechnen. Auf die Gestaltung dieser Beziehungen zwischen Staat und Kirche sind in diesem Jahrhundert ganz besonders zwei in Wechselwirkung stehende Entwickelungen von bestimmendem Einfluß gewesen, von denen die eine im Staate, die andre in der Kirche vor sich ging. Der Staat gestaltete sich nämlich aus dem polizeilich-absoluten in den konstitutionellen Rechtsstaat um. Durch das Repräsentativsystem, durch die Öffentlichkeit des modernen Staatslebens, die Vereinsfreiheit und die Freiheit der Presse wird dem Einzelnen oder dem Verein auch auf den gesetzgebenden und indirekt auf den verwaltenden Staatswillen selbst bestimmend einzuwirken ermöglicht; insbesondere sind zur Leitung der politischen Wahlen soziale Einflüsse benutzbar, so daß dann die leitende Genossenschaft, indem sie ihre Vertreter in die Gemeinderäte, Provinzialstände und Abgeordnetenkammern sendet, auf die Regierung der entsprechenden Kreise einen Einfluß ausübt.

Die römisch-katholische Kirchengenossenschaft erhielt in einem so gestalteten Staatsleben einerseits größere Freiheit ihrer selbständigen sozialen Existenz und Entwickelung, anderseits eine größere politische Macht, als sie im absoluten Polizeistaat gehabt hatte. Daher trat der am Anfang dieses Jahrhunderts in Deutschland herrschende Episkopalismus mehr und mehr gegen den wieder vordringenden Kurialismus zurück. Allerdings hatte diese Erscheinung auch einen keineswegs zu unterschätzenden idealen Grund in der Gesamtströmung, die als Entwickelung der romantischen Schule bezeichnet zu werden pflegt. Nun hatte bei der Säkularisation von 1803 das Reich ein über die Neueinrichtung der deutschen Diözesen mit dem Papst abzuschließendes Konkordat in Aussicht genommen und die künftigen Bistümer zu dotieren versprochen. Als dies Reichskonkordat nicht zu stande gekommen war, schlössen nach der Restauration von 1815 die deutschen Einzelstaaten, welche katholische Unterthanen in nennenswerter Menge hatten, über Neueinrichtung und Dotierung der Bistümer Verträge mit Rom. Die Staatsregierungen gingen hierbei von einer kollegialistischen Auffassung, nämlich davon aus, es gelte die Reorganisierung solcher katholischer Religionsgesellschaften, deren je eine von den Katholiken eines Staats gebildet werde. Die Kurie hingegen hielt den Gesichtspunkt fest, daß sie eine einzige über die Welt ausgebreitete und nicht bloß die Katholiken, sondern rechtlich alle Christen umfassende Kirchengenossenschaft vertrete. Sie gab diesem Standpunkt, obwohl sie ihn gelegentlich als einen für jetzt unpraktischen bezeichnet hat, in jenen Verhandlungen unverhüllten Ausdruck; die Regierungen aber, die von der sozialen und staatlichen Entwickelung, welche bevorstand, noch keine Ahnung hatten, würdigten dessen politische Bedeutung damals nicht; Bayern ging sogar so weit, sich in seinem Konkordat ihm äußerlich zu fügen, während Preußen jedes Eingehen auf dergleichen Ansprüche ablehnte, indem es sich seine Kirchenhoheitsrechte und seinen Staatsangehörigen die Gewissensfreiheit ausdrücklich wahrte. Dies Beispiel ahmten die übrigen unterhandelnden protestantischen Regierungen nach.

In der Praxis blieben aber noch längere Zeit nach dieser Reorganisationsarbeit die polizeistaatlichen Zustände lebendig; der Umschwung der Gesinnungen, von welchem oben die Rede war, zeigte seine ersten Wirkungen nicht früher als in einer um Mitte der 30er Jahre mit dem Erzbischof von Köln, Klemens August v. Droste, ausgebrochenen Streitigkeit. Die römische Kurie hatte von jeher ihr Prinzip, daß es Gleichberechtigung der christlichen Konfessionen nicht gebe, vielmehr der Protestant nichts als ein im Bann befindlicher Katholik sei, unter anderm auf die konfessionell gemischten Ehen angewendet, hatte aber in Deutschland, wenigstens im nördlichen, eine gelindere Praxis schon seit etwa 1740 teils zugelassen, teils ignoriert. Diese Praxis war in den östlichen preußischen Provinzen günstiger für die Gleichberechtigung als in den später erworbenen westlichen ausgebildet. Als nun die Regierung, welcher die Parität ein der katholischen Kirche gegenüber gewissenhaft geübtes Staatsprinzip war, die Praxis der östlichen Bischöfe auch bei den westlichen erzwingen wollte, allerdings nicht ohne Fehler in der Ausführung, fand sie dort so allgemeinen und so heftigen Widerspruch, daß sie vor demselben (1838) zurückwich. Die Regierung des bedeutendsten deutsch-protestantischen Staats gab auf diesem Punkt also die kirchliche Behandlung ihrer protestantischen Unterthanen als ungehorsamer Katholiken zu. Für die römischen Interessen war es dabei in hohem Grad günstig, daß um 1840 sowohl in Norddeutschland (Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. von Preußen) als in Süddeutschland (bayrisches Ministerium Abel unter König Ludwig I.) Männer an die Spitze der wichtigsten Staatsregierungen kamen, denen nicht weniges von den Forderungen der ultramontan geleiteten kirchlichen Genossenschaft sympathisch war.

So vorbereitet trat diese Genossenschaft in das Jahr 1848 ein. Die Verfassungsentwickelung in den deutschen Einzelstaaten war ihr im allgemeinen günstig: sie ließ ihr die privilegierte Stellung, vermöge deren zur Aufrechthaltung kirchlicher Ordnungen der weltliche Arm zur Disposition blieb, garantierte ihr genossenschaftliche Selbständigkeit und gab ihr die Freiheit, ihren sozialen Einfluß nach Kräften zu steigern und politisch zu verwerten. Aber sie beließ dem Staat sein kirchenhoheitliches Aufsichts- und Einschränkungsrecht, dessen Aufgeben die Bischöfe im Sinn des römisch-kurialen Systems gleichfalls gefordert hatten. Nur duldete die preußische Regierung eine Reihe von Jahren hindurch thatsächlich, daß die Bischöfe die der Kirche eingeräumte bedingte Selbständigkeit als unbedingte handhabten. In Österreich erlangte diese souveräne kirchliche Selbständigkeit vermöge des 1855 mit dem Papst abgeschlossenen Konkordats auch prinzipielle und rechtliche Anerkennung. Für Süddeutschland wurde Baden zum Angriffspunkt erlesen, wo zwei Dritteile der Unterthanen einer protestantischen Landesherrschaft, die sich 1848 schwach gezeigt hatte, Katholiken waren. Wirklich gelang es dem dortigen Landesbischof, nicht bloß die badische, sondern gleicherweise die benachbarte württembergische Regierung, nicht ohne österreichische Unterstützung, so einzuschüchtern, daß sie von der kirchlichen Souveränität des Papstes Hilfe erbaten und dieselbe in Verträgen zugesichert erhielten (1857, 1859), in denen, soviel dies in großenteils protestantischen Staaten für jetzt thunlich erschien, der Inhalt des österreichischen Konkordats reproduziert ward, während auch die hessen-darmstädtische Regierung zu einem ähnlichen, vorderhand