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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Kirchenstaat

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Kirchenstaat (Geschichte: bis zum 10. Jahrhundert).

Hauptpunkte die Unveräußerlichkeit aller Benefizien und Länder des Kirchenstaats, Verfolgung der Ketzer und Erhaltung des (längst nicht mehr vorhandenen) Sixtinischen Schatzes waren. An der Spitze der Verwaltung stand der vom Papst aus der Mitte der Kardinäle ernannte Kardinal-Staatssekretär, der den Papst vor dem Ausland und den eignen Unterthanen als Premierminister vertrat und die übrigen Minister aus den Kardinälen ernannte, denen gegenüber er die Stellung eines Chefs einnahm. Auch das diplomatische Personal wurde von ihm ernannt und geleitet. Neben dem Ministerrat existierte noch ein Staatsrat von 15 zum Teil weltlichen Mitgliedern, dem eine beratende Stimme in der Gesetzgebung und den Finanzangelegenheiten und eine richterliche Stimme in Kompetenzstreitigkeiten zwischen den höhern Verwaltungsbehörden zustand. Die Finanzangelegenheiten wurden seit 1850 von der sogen. Finanzkonsulta geleitet, deren Mitglieder zum größern Teil vom Papst auf Vorschlag der Provinzialräte gewählt, zum kleinern (ein Viertel) direkt von ihm aus der Geistlichkeit ernannt wurden. Die den Provinzen vorstehenden Kardinäle übten die Funktionen von Statthaltern aus und verkehrten nur direkt mit dem Staatssekretär. Die Provinzen waren in Governi geteilt, als deren oberste Administrativbeamten (die auch Laien sein konnten) die von der Regierung ernannten Governatori fungierten. Ihnen zur Seite stand ein auf sechs Jahre gewählter Provinzialrat, aus dem alle zwei Jahre ein Drittel der Räte ausschied. In der Rechtspflege fand ein dreifacher Instanzenzug statt; die letzte Instanz bildete der Justizminister. Die Finanzverhältnisse waren stets mißlich und bereiteten der Regierung oft Verlegenheiten. Die Staatsschuld belief sich auf ca. 550 Mill. Lire, und das jährliche Defizit, das zum Teil durch den Peterspfennig gedeckt wurde, pflegte erheblich zu sein (Budget von 1868: 28,845,359 Lire Einnahme gegen 73,949,803 Lire Ausgabe). Die päpstliche Armee wurde wesentlich durch fremde Soldtruppen rekrutiert und zählte 1869: 15,670 Mann. Päpstliche Orden: der Christusorden, der Orden vom goldenen Sporn, Orden des heil. Johann vom Lateran, des heil. Gregor und der Piusorden. Landesfarben waren Gold und Silber.

Geschichte des Kirchenstaats.

Daß Konstantin d. Gr. dem Papst Silvester I. Italien oder wenigstens den K. geschenkt habe, ist schon längst als Fabel erkannt. Die Schenkungsurkunde ist ein späteres Machwerk und zwischen 752 und 777 von einem römischen Priester gefälscht. Doch ist nicht zu bezweifeln, daß Konstantin und seine Nachfolger die römischen Bischöfe mit reichem Grundbesitz ausstatteten; allein diese erhielten keine weltliche Souveränität darüber. Förderlich für die äußere Machtentwickelung der Päpste war, daß die Kaiser schon seit dem Ende des 4. Jahrh. nicht mehr in Rom residierten, und daß auch die Statthalter der griechischen Kaiser, die Exarchen, ihren Sitz nicht hier, sondern in Ravenna hatten. Zur Zeit Gregors I. (590-604) war der Grundbesitz der römischen Kirche schon ziemlich ausgedehnt. Dazu gehörte die ganze Umgebung von Rom zu beiden Seiten des Tiber: an der Via Appia, an der Via Labicana und Tiburtina und in Tuscien, ferner Besitzungen in Sizilien, Kampanien, Süditalien, Dalmatien, Illyrien, Gallien, Sardinien, Corsica und Ligurien. Diese Domänen nannte man Patrimonien; sie standen unter der Verwaltung des Papstes, aber bis zum 8. Jahrh. unter der Oberhoheit des byzantinischen Kaisers. Das erste freiere Besitztum, die Stadt Sutri, erhielt Papst Gregor II., der während des Bilderstreits an Stelle des byzantinischen Dux auch in der Stadt Rom die höchste Gewalt erlangte, 728 vom Langobardenkönig Liutprand; 742 fügte derselbe, nachdem ein Konflikt zwischen ihm und dem Papste durch Vermittelung Karl Martells beigelegt war, der ersten Schenkung noch die Städte Amelia, Orta, Bomarzo und Bieda hinzu. Als König Aistulf mit dem Plan umging, sich ganz Italien zu unterwerfen, suchte Papst Stephan II. um fränkischen Schutz nach. König Pippin unternahm hierauf 755 und 756 zwei Feldzüge nach Italien, erwirkte die Zurückgabe des geraubten römischen Patrimoniums und ernannte den Papst zum Herrn des Exarchats von Ravenna und der Pentapolis (der fünf Städte Rimini, Pesaro, Fano, Sinigaglia, Ancona). Der Papst empfing diese Gebiete als faktisch anerkanntes Oberhaupt der Stadt Rom, zugleich im Namen der römischen Kirche und des heil. Petrus, und trat an die Stelle des Exarchen. Hier endet die rein bischöfliche und priesterliche Epoche der römischen Kirche, es beginnt die Verweltlichung des Papsttums.

Da Aistulfs Nachfolger Desiderius mit der Herausgabe einzelner Bestandteile der Pippinschen Schenkung zögerte, so rief Papst Hadrian I. Kaiser Karl d. Gr. zu Hilfe, und dieser stürzte 774 die Langobardenherrschaft und bestätigte und vermehrte die Schenkung seines Vaters an den Papst durch einen Teil von Tuscien und der Sabina. Denn wie Karl Patricius von Rom war, so blieb er Oberherr über das Patrimonium. Mit der Kaiserkrönung Karls d. Gr. (25. Dez. 800) sank der Papst (Leo III.) völlig in die Rolle des ersten Geistlichen des Reichs, der über großen Grundbesitz verfügte, herab. Sein Verhältnis zu Ostrom war nun ganz gelöst, für Rom gab es einen neuen Kaiser im Abendland. Dieser empfing den Treueid vom römischen Volk und besaß die oberste Richtergewalt im ganzen Patrimonium, die er durch einen beständigen Missus oder Legaten ausübte; die Beamten setzte der Papst ein, an dessen Hof (im Lateran) damals zuerst ein förmliches Ministerium von sieben Klerikern, welche jedoch zu keinem kirchlichen Grad aufsteigen durften, erscheint. Die kaiserlichen Rechte in Rom und dem K. stellte dann Kaiser Lothar I. 824 in der "römischen Konstitution" noch einmal fest. Die Schwäche der spätern Karolinger zwang die Päpste, selbst Maßregeln zur Verteidigung ihres Gebiets gegen auswärtige Feinde, insbesondere gegen die Sarazenen, zu ergreifen, ihre Zwistigkeiten aber trugen nicht wenig zur Verstärkung der päpstlichen Macht bei. Nikolaus I. (858-867) herrschte über den K. von Rimini bis Terracina als über ein unbestrittenes Eigentum. Die reichen Güter, welche Kaiser Ludwigs II. Witwe Engilberga im römischen Gebiet besaß, fielen nach ihrem Tod größtenteils der Kirche anheim. Nach dem Kaiser Arnulf von Kärnten ging die Kaiserkrone bis 924 auf italienische Große über, und hierauf entstanden blutige Kämpfe um das Regiment. Während dieser Zeit besetzten ausschweifende Weiber, eine Theodora und Marozia, den römischen Stuhl mit ihren Buhlen, und die Päpste gerieten in eine förmliche Dienstbarkeit zu ihren Vasallen, besonders zu den Grafen von Tusculum. Am tiefsten sank das Papsttum unter Johann XI. (931-936), der ein willenloses Werkzeug in der Hand seines zügellosen Bruders Alberich wurde, und unter Johann XII. (955-964). Die Besitzungen des römischen Stuhls in Roms Nähe wurden meist von den Verwandten der Päpste okkupiert, und das Exarchat nebst der Pentapolis wurde eine Beute kleiner Dy-^[folgende Seite]