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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Kirchenstaat

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Kirchenstaat (10.-14. Jahrhundert).

nasten, die zu den Erzbischöfen von Ravenna, den alten Rivalen der Päpste, in ein Lehnsverhältnis traten. Der deutsche König Otto I. stellte im Februar 962 das Kaisertum wieder her und bestätigte zugleich dem Papst die Schenkungen der frühern Kaiser. Doch noch zu Ende des 10. Jahrh. erneuerte sich der Streit um den K., besonders mit den ravennatischen Erzbischöfen, und diese brachten es dahin, daß Gregor V. (996-999), des Haders müde, 998 in die Abtretung der Stadt Ravenna und der Grafschaften Comacchio und Cesena willigte. Die Kaiser Otto III. und Heinrich II. bestätigten nicht allein diese, sondern auch die Abtretung der Grafschaften Montefeltre, Cervia, Decimano, Imola, Bologna und Faenza zu gunsten der Kirche von Ravenna.

So waren um die Mitte des 11. Jahrh. die Päpste auf Rom und dessen nächste Umgebung beschränkt. 1056 brachte Leo IX. die Stadt Benevent durch Austausch kirchlicher Rechte in Deutschland an den römischen Stuhl, und auch das Festhalten der Päpste an dem bei dem bekannten Investiturstreit aufgestellten Grundsatz, nach welchem kein Laie Lehnsherr der Kirche sein durfte, trug dazu bei, die Unabhängigkeit des Kirchenstaats zu sichern. Eine neue Stütze des päpstlichen Ansehens wurde die Herrschaft der Normannen in Unteritalien, deren Herzog Robert Guiscard (s. d.) 1059 vom Papst Nikolaus II. mit Apulien und Kalabrien sowie allen Ländern, die er in Süditalien und Sizilien den Sarazenen entreißen würde, belehnt wurde. 1077 setzte die Gräfin Mathilde von Toscana, die mächtige Freundin Gregors VII. (1073-1085), den römischen Stuhl zum Erben aller ihrer Güter für ihren Todesfall ein und erneuerte nach ihrer Trennung von dem zweiten Gatten, Welf V. (1095), diese Schenkung 1102. Da in der Urkunde jede genauere Bestimmung fehlte, so erhob sich jetzt die Streitfrage, was von den Mathildischen Gütern Allodialgut, was Reichslehen sei. Der Besitz des Ganzen hätte die Päpste, die schon die Lehnshoheit über Unteritalien besaßen, zum Herrn der ganzen Halbinsel gemacht. Da ist es nun erklärlich, daß sich um die Mathildische Erbschaft ein Kampf zwischen den Päpsten und den weltlichen Gewalten, nämlich den Kaisern, Welfen und italienischen Städten, entspinnen mußte. Heinrich V. zog 1116 die Erbschaft ein; Kaiser Lothar schloß 1133 mit Innocenz II. einen Vergleich, kraft dessen er in betreff der Allodialgüter die Schenkung Mathildens anerkannte, aber sie vom Papst gegen ein Jahrgeld von 100 Pfd. Silber übertragen erhielt, so daß sie von den Reichslehen nicht geschieden wurden. Dieselben gingen später auf Heinrich den Stolzen von Bayern, dann auf Welf VI. und 1167 auf die Staufer über, bis endlich Kaiser Otto IV. 8. Juni 1201 zu Neuß die Ansprüche des römischen Stuhls auf sie förmlich anerkannte. Zugleich bestätigte Otto IV. als päpstliches Gebiet den ganzen Strich von der Burg Radicofani in Toscana bis zu den Engpässen von Ceperanoan der neapolitanischen Grenze, den Exarchat, die Pentapolis, die Mark Ancona, das Herzogtum Spoleto, die Mathildischen Güter, die Grafschaft Brittenoro, und versprach, den Papst in der Aufrechthaltung seiner Ansprüche auf Sizilien unterstützen zu wollen. Damit wurde die Souveränität des Kirchenstaats staatsrechtlich begründet und die Grenzen desselben so festgestellt, wie sie bis auf die jüngsten Umwälzungen bestanden haben.

Alle folgenden Kaiser erkannten die Kapitulation von Neuß an. Als dann Friedrich II. wiederum die kaiserliche Herrschaft in Italien erneuern wollte, einigte sich das Papsttum zum Schutz des Kirchenstaats, den es ausdrücklich als das Symbol seiner Weltherrschaft betrachtete, mit den lombardischen Städten, und beide kämpften für die Selbständigkeit der italienischen Nation. Und doch waren die Päpste städtischer Freiheit abhold, wie sie an den eignen Städten bewiesen. Ihr Verhältnis zu diesen war lange kein andres als das des obersten Lehnsherrn zu Vasallen, welche mit ihm einen Vertrag geschlossen hatten. Die Städte erkannten die Hoheit der Päpste an, übertrugen ihnen oft die Gewalt des Senators (in Rom) oder Podestas auf Lebenszeit, leisteten Heeresfolge, zahlten Grundsteuer, unterwarfen sich bisweilen dem Tribunal der Provinziallegaten; aber sie behaupteten ihre Statuten, ihre Gerichtsbarkeit und Verwaltung. Jede Stadt blieb eine Republik; die Päpste suchten den Städten manche Rechte zu entreißen, wußten eine durch die andre zu bezwingen, konnten es aber nicht zu einer landesherrlichen Gewalt, zu einer innern Einheit des Kirchenstaats bringen. In den Kriegen mit Friedrich II. wurde der K. bisweilen von letzterm besetzt; am meisten hatte er 1255-64 unter den Einfällen Manfreds von Sizilien zu leiden, der große Eroberungen in der Romagna und in der Mark Ancona machte. König Philipp III. von Frankreich schenkte 1273 Papst Gregor X. die Grafschaft Venaissin. Auch Kaiser Rudolf I. bestätigte 1275 den Vertrag von Neuß, versprach, nie ein Lehen der römischen Kirche anzutasten, begab sich aller Hoheit über die päpstlichen Lehnsträger und gelobte, nie ein Amt oder eine Würde im römischen Gebiet ohne die Einwilligung des Papstes zu bekleiden. Ja einem neuen Vertrag von 1279 entband Kaiser Rudolf alle italienischen Städte, in welchen er noch Hoheitsrechte ausgeübt, ihrer Eide und stellte diese Städte unter die Hoheit des römischen Stuhls.

Auch im K. hatten die Parteien der Guelfen und Ghibellinen tiefe Wurzeln geschlagen; des Schutzes bedürftig, hatten die Bürgerschaften sich willig der Herrschaft mächtiger Adelsgeschlechter gefügt. So gewannen in Ravenna die Polenta, in Rimini die Malatesta, in Urbino die Montefeltre die höchste Gewalt. Guido von Montefeltre, ein Ghibelline, wußte 1282 fast die ganze Romagna und den größten Teil der Mark Ancona zum Aufstand gegen den Papst zu verleiten. Guido unterlag 1286, aber die Furcht und Abneigung der städtischen Dynasten vor dem Papst wuchs erst recht; 1290 brach die Empörung von neuem aus, und Guido kehrte nach Urbino zurück. Noch bedenklicher wurde die Lage des Papsttums unter Bonifacius VIII. (1294-1303), als der Hader auch in der Stadt Rom ausbrach. Hier befehdeten sich die Colonna und Orsini, und der Papst nahm für die letztern Partei. Mit der ganzen Glut seines leidenschaftlichen Temperaments verfolgte er die Colonna, und sie schienen zu erliegen; da erklärten sich die Römer für sie, und schließlich mußte Bonifacius selbst 1302 fliehen. Während ihres Aufenthalts in Avignon, das Clemens VI. 1348 käuflich für den K. erwarb, von 1309 bis 1377 vermochten die Päpste ihren Staat nur durch mannigfache Konzessionen an die bedeutenden Dynasten und Städte zusammenzuhalten. Großen Einfluß gewann in dieser Verwirrung König Robert von Neapel, der 1309 zum Generalvikar der Kirche ernannt worden war. Heinrich VII. ernannte zwar, als er 1312 zur Krönung nach Rom kam, einen kaiserlichen Statthalter; doch mußte derselbe nach Heinrichs Tod wieder den päpstlichen Gewalthabern weichen. Auch diese ver-^[folgende Seite]