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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Krankheit

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Krankheit.

heit zeigt auch der anscheinend Gesündeste, und auch der Sprachgebrauch unterscheidet daher Unwohlsein von K. Die Lehre von den Krankheiten, die Pathologie, unterscheidet äußerliche (traumatische [v. griech. trauma, Verletzung], chirurgische) Krankheiten, zu denen Verletzungen durch Stoß und Schlag, Quetschungen, offene Wunden, Knochenbrüche, Verbrennungen, aber auch Geschwüre, Abscesse, Eingeweidebrüche gehören, und innere Krankheiten; außerdem nach den befallenen Geweben oder Organen Haut-, Knochen-, Augen-, Ohren-, Lungen-, Magenkrankheiten etc., denen dann die Konstitutionskrankheiten, bei welchen der ganze Organismus ergriffen ist, gegenüberstehen. Schnell eintretende und schnell verlaufende Krankheiten heißen akute im Gegensatz zu den chronischen mit schleichendem Verlauf; je nachdem Fieber vorhanden ist oder nicht, unterscheidet man fieberhafte (entzündliche, hitzige) und fieberlose Krankheiten, ferner nach der Art des Verlaufs rhythmische (cyklische, periodische) Krankheiten mit deutlicher Aufeinanderfolge regelmäßig begrenzter und charakteristischer Perioden, wie die Infektionskrankheiten, und arhythmische (atypische), bei denen dergleichen nicht zu beobachten ist. Bei den intermittierenden (aussetzenden) Krankheiten sind einzelne Anfälle, Paroxysmen, durch Perioden verhältnismäßigen Wohlbefindens voneinander getrennt. Der regelmäßige Verlauf einer K. wird oft unterbrochen durch eine plötzliche (akute) Verschlimmerung (Exacerbation), eine Verbreitung des Krankheitsprozesses auf noch gesunde Teile eines Organs (Nachschub) oder durch einen Rückfall (Recidiv), der oft erst im Stadium der Genesung (Rekonvaleszenz) auftritt. Die Krankheiten enden mit dem Tod oder mit völliger, oft aber auch nur mit teilweiser Genesung. Bisweilen nimmt die K. rasch eine Wendung zum Bessern, es tritt eine Krisis ein, und der Patient erholt sich auffallend schnell, in andern Fällen kann eine akute K. chronisch werden, die Genesung kann sehr langsam erfolgen, und es bleiben wohl auch andersartige krankhafte Zustände (Nachkrankheiten) oder eine ausgesprochene Disposition zu neuen Erkrankungen zurück. Innerhalb einer Bevölkerungsgruppe treten die Krankheiten einzeln, sporadisch, auf, oder die Fälle häufen sich, kumulieren, und es kommt zur Seuche, Epidemie. Gewisse Krankheiten finden sich beständig in bestimmten Lokalitäten und nur oder fast nur in diesen, wie Wechselfieber in Sumpfgegenden, und heißen dann endemische.

Die ältere Medizin betrachtete die K. als etwas dem Organismus Fremdes, ihm Aufgedrungenes (ontologische Auffassung) und versuchte selbst eine Personifizierung der K. Die Lehre vom Archeus und die spätere vom Animismus gehören noch in diesen Kreis. Unter der Herrschaft naturwissenschaftlicher Anschauungen suchte man den Ursprung der Krankheiten in den Säften (humores) des Körpers, besonders im Blut (Humoralpathologie), oder in den festen Teilen (solida) des Körpers, besonders in den Nerven (Solidarpathologie), und der Streit zwischen beiden Parteien dauerte bis in die Mitte des 19. Jahrh., wo Virchow zeigte, daß der Sitz, der Ausgangspunkt der K., die jetzt nicht mehr als etwas Fremdes, das den Körper befällt, sondern als eine Abweichung höhern Grades vom normalen Lebensprozeß betrachtet wurde, in den Zellen zu suchen sei (Cellularpathologie). Nach dieser Lehre beruht das Wesen der K. in einer Störung des normalen Zustandes der Gewebszellen und der gestörten Wechselwirkung dieser Zellen untereinander. Die Störung betrifft entweder die Funktion, oder die Ernährung, oder beide zusammen. Funktion und Ernährung können aber in zwei Richtungen gestört werden, sie können eine krankhafte Steigerung und eine krankhafte Herabsetzung erfahren. Die Ursachen, welche eine K., d. h. eine allzu große Schwankung der Lebensthätigkeit nach der Seite des Zuviel oder Zuwenig, bedingen, sind zweierlei Art. Die erstere Reihe umfaßt die entferntern, die disponierenden Ursachen, die Krankheitsanlage (s. Anlage), die zweite dagegen die nächsten, direkten, unmittelbaren Ursachen. Letztere nennt Virchow Reize, und je nach der Wirkungsweise derselben auf die Gewebe unterscheidet er mechanische, chemische, elektrische und thermische (Wärme, Kälte) Reize. Eine fernere Möglichkeit, wie eine Schädlichkeit ihre Einwirkung auf organische Teile geltend machen könnte, ist zur Zeit nicht denkbar, und wenn wir auch bei vielen Krankheiten die nächsten Ursachen nicht kennen, so müssen sich unsre Mutmaßungen doch immer auf diesem engen Gebiet bewegen. Als bestimmend für den einzelnen Fall treten noch hinzu die Heftigkeit, die Intensität des Reizes und die dem lebenden Organismus innewohnende, seine Erhaltung auch unter den schwierigsten Umständen erstrebende Kraft, die Reaktionsfähigkeit der Gewebe, die Widerstandskraft des ganzen Körpers, die Konstitution. Nach den Ursachen der Krankheiten (welche die Ätiologie erforscht) unterscheidet man angeborne Krankheiten, die auf Erblichkeit (erbliche Krankheiten) und auf die Verhältnisse des Fötallebens zurückzuführen sind, und erworbene Krankheiten. Wie und in welcher Weise aber die Krankheiten erworben werden, ist meist noch unbekannt. So werden die verschiedensten Krankheiten auf eine Erkältung zurückgeführt, die besten Falls oft nur die Gelegenheitsursache bildet, während die K. selbst durch angeborne Eigentümlichkeiten des Organismus und durch sehr verschiedene Schicksale desselben längst vorbereitet war. Die Gelegenheitsursache muß also eine Anlage oder Disposition vorfinden, wenn sie eine Erkrankung und eine bestimmte Erkrankung bewirken soll. Dies gilt selbst für die Infektionskrankheiten (ansteckenden, kontagiösen Krankheiten), welche auf Übertragung eines Keims auf den gesunden Organismus beruhen. Letzterer muß eine bestimmte Disposition zur Erkrankung besitzen, wenn der übertragene Keim in Wirksamkeit treten soll. Hierauf beruht es, daß bei einer Seuche stets nur ein mäßiger Prozentsatz der Bevölkerung stirbt, während man annehmen muß, daß ein sehr viel größerer Teil derselben ebenfalls den Krankheitsübertrager aufgenommen hat. Von den kontagiösen Krankheiten, bei welchen der Krankheitskeim von Person zu Person übertragen wird, kann man die miasmatischen Krankheiten unterscheiden, bei denen die krank machende Substanz stets nur vom Boden aus, in welchem sie entsteht und sich fortpflanzt, auf den Organismus übertragen wird, und die kontagiös-miasmatischen Krankheiten, bei denen der Kranke den Keim hergibt, der sich im Boden weiter entwickelt und von diesem aus auf andre Personen übertragen wird.

Hinsichtlich der sogen. Entwickelungskrankheiten ist zu bemerken, daß die Entwickelung, in welcher Periode sie auch begriffen sein möge, keine eigentümlichen Krankheitsformen, also keine solchen erzeugt, die man nur vor oder nach Entwickelungsperioden und nicht ohne direkte Veranlassung von