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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Lyrik

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Lyrik (Arten).

gang", "Die Ideale"), dieser gehört die (geistliche und weltliche) Ode (Davids Psalmen; Pindars, Klopstocks, Platens Oden) und der Dithyrambus (Bacchischer Gesang, Schillers "Dithyrambe") an. In der höhern wie niedern L. ist die (freudige oder traurige) Gemütsstimmung entweder durch die Anwesenheit oder durch die Abwesenheit des (angenehmen oder unangenehmen) Objekts erzeugt. Im erstern Fall ist dieselbe rein (erhabene, idyllische Freude; erhabene, idyllische Trauer), im letztern gemischt entweder aus der Freude über die Annehmlichkeit und der Trauer über die Abwesenheit (elegisches Entzücken, elegische Freude) oder aus der Trauer über die Unannehmlichkeit und der Freude über die Abwesenheit (elegischer Jammer, elegische Trauer) des Objekts. Durch die Erinnerung des einstigen Besitzes des Angenehmen sowie durch die Vorstellung seines künftigen Besitzes (Hoffnung) wird die Trauer über dessen Abwesenheit, durch das Bewußtsein, daß das Unangenehme nicht mehr oder noch nicht gegenwärtig ist, die Trauer über dessen Unannehmlichkeit gemildert (erhabener, elegischer Trost). Durch die Vorstellung, daß das Angenehme nicht mehr oder noch nicht gegenwärtig (und vielleicht nie wird: Furcht), wird die Freude an dessen Annehmlichkeit, durch das Bewußtsein, daß dasselbe nur scheinbar angenehm, in Wahrheit das Gegenteil (die vermeintliche Treue Treulosigkeit) sei, die Freude über dessen Anwesenheit getrübt (hoffnungslose, elegische Verzweiflung). Goethe und das Volkslied weisen alle Schattierungen der niedern L. auf; die erhabene Freude der höhern L. erscheint in den wedischen Hymnen und philosophischen Lehrgedichten Schillers, die erhabene Trauer in den Traueroden Klopstocks und Platens, der erhabene Trost in den Psalmen, die erhabene Verzweiflung (Weltschmerz) in Byrons und in der modernen L. des (Comteschen) Positivismus (Louise Ackermann) vertreten.

Wird die lyrische Gemütsstimmung von andern geteilt, so erscheint die soziale (gesellige), wird sie durch die gleiche oder entgegengesetzte andrer im Dichter verursacht, die sympathetische (gesellschaftliche) L. Form der erstern ist der gesellige (Chor-) Gesang, Form der letztern die Anrede (Apostrophe) an den (oder die) andern als (wirklichen oder doch vermeintlichen) Urheber der eignen (gleichen: Liebe um Liebe, Haß um Haß; oder entgegengesetzten: Liebe um Haß, Haß um Liebe) Gemütsstimmung. Zu jener gehört je nach der Beschaffenheit der gemeinsamen Gemütsstimmung der geistliche und weltliche Chorgesang, dagegen je nach dem gemeinsamen Grund, aus welchem die Gemeinsamkeit der Gemütsstimmung entspringt (Gleichheit der Abstammung, des Alters, des Standes und Berufs, des bleibenden oder vorübergehenden Zwecks), das Lied der Volks- Alters-, Standes- und Berufs-, Trink-, Fest-, Bundes- etc. Genossen (Volks-, Jugend-, Jäger-, Soldaten-, Trink-, Fest-, Bundeslied etc.). Diese umfaßt, je nachdem der andre dem Dichter höher als er selbst (dem Menschen ein Gott, eine Göttin) oder ihm gleich (ebenbürtig) oder unter ihm stehend (der Mensch der Natur gegenüber sich als Gott) erscheint: die L. der Ehrfurcht (Lob- und Danklied), wenn jener Höhere als zugeneigt, der Furcht (Bitt- und Sühnelied), wenn er als abgeneigt gedacht wird; die L. der Sympathie, wenn jener Ebenbürtige als liebend (Freundschaftslied, wenn er desselben, Liebeslied, wenn er entgegengesetzten Geschlechts ist), der Antipathie, wenn jener Ebenbürtige als hassend gedacht wird (Kriegslied, wenn er desselben, Trutzlied, wenn er entgegengesetzten Geschlechts ist); die L. des Erbarmens, wenn das Schwächere als willig (Wiegen- und Pflegelied), des Machtgefühls, wenn dasselbe als unwillig (Triumph- und Siegeslied) sich fügend vorgestellt wird.

Wie die Form der naiven sympathetischen L. die unmittelbare, so ist die der reflektierenden die (durch die Schrift) vermittelte Anrede, der poetische Brief, welcher dort, wo der Gegenstand der Reflexion der Reflektierende selbst ist, in der humoristischen L., wieder zur Anrede (des Dichters an sich selbst), aber zur ironischen, zum Selbstzwiegespräch wird. Jene erscheint als Epistel, wenn bei der Reflexion über andre nur der Verstand, als Elegie, wenn das Gemüt, als Satire, wenn das Gewissen beteiligt ist. Die Epistel ist komisch, wenn der andre als thöricht, didaktisch, wenn er als (unverschuldet) unwissend vorausgesetzt, also im erstern Fall verspottet, im letztern aufgeklärt wird (des Horaz Brief ad Pisones). Die Elegie (gemütvolle Epistel) ist Mitteilung der eignen (römische) oder Mitgefühl mit fremder (heiterer oder trüber) Gemütsstimmung (griechische Elegie). Die Satire (die moralische Epistel) ist entweder Anklage (juvenalisch) oder Strafe (Archilochos' Iamben, Goethes und Schillers Xenien). Zur römischen Elegie (Ovids "Ex ponto") gehört auch die Heroide (das Schreiben aus der Unterwelt), zur Epistel und Satire das adressierte Epigramm.

Die über sich selbst reflektierende L. teilt mit der sympathetischen L. die Form der Anrede, mit dem Unterschied, daß der Angeredete nicht, wie bei dieser, als ein wirklicher andrer vorausgesetzt, sondern der selbsterfundene Doppelgänger des Dichters ist, wodurch der Gebrauch obiger Form ein ironischer wird. Weder das höhere Wesen, das er zu ehren oder zu fürchten, noch das ihm ebenbürtige, das er zu lieben oder zu hassen, noch das schwächere, dessen er sich zu erbarmen oder über das er zu triumphieren vorgibt, sind für den Dichter wirklich vorhanden. Himmel, Erde und Hölle sind für ihn nichts als Geschöpfe seiner Einbildungskraft, an welche zu glauben Thorheit wäre, an welche nicht glauben zu können sein Unglück ist. Glaube, Liebe und Hoffnung sind für des Dichters Kopf ein Wahn; die Wahrheit des Geglaubten, Geliebten, Gehofften ist für des Dichters Herz ein unauslöschliches Bedürfnis; Verstand und Gemüt, Wissen und Wunsch liegen im unauflöslichen Zwiespalt; aus der Zerrissenheit des Dichters, der sich verlacht, wenn er glaubt, und beweint, weil er nicht glaubt, der durch Elend klug und durch Klugheit elend geworden ist, entspringt die aus Spott und egoistischem Erbarmen gemischte Gemütsstimmung (der böse Humor, Weltschmerz), deren Ausfluß die vorzugsweise moderne humoristische L. (Lord Byron, Heine) ist. Dieselbe nimmt, je nachdem sie sich (asthenisch) in die Unabänderlichkeit (die Thatsache des hoffnungslosen Zwiespalts) ergibt (Heine) oder sich (sthenisch) gegen dieselbe und deren vermeintlichen Urheber empört (Byron, Shelley, A. de Musset), die Form der (komischen oder tragischen) Resignation (pessimistische L.) oder des heroischen (dem des Satans wider Gott ähnlichen) Widerstandes (satanische L.) an. Während die komische Resignation (Heine) auf der Stufe der niedern L. (ironisches Lied, humoristisches Epigramm) beharrt, hebt sich die tragische als pessimistisch es Lehrgedicht, pessimistische Ode (Louise Ackermann) und pessimistischer Chorgesang (antike Tragödie) zur Stufe der höhern empor, welcher die satanische L. ("Der Kampfruf wider und der Triumphgesang über die Götter und das Schicksal" in Äschylos', Goethes, Shelleys u. a. Prometheus-Dichtungen) durchaus angehört.