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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Musik

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Musik (im Altertum).

liefen. Hierbei ist allerdings zu bemerken, daß der Begriff "Tonart" im Altertum ein andrer und weiterer war als gegenwärtig und alle die durch Erhöhung, Vertiefung oder Überspringung einzelner Intervalle der Skala entstehenden Varianten als solche galten. Findet man ferner, daß sich die Inder sowenig wie die übrigen Völker des Altertums auf die Einteilung der Oktave in zwölf Halbtöne beschränkten, sondern auch Vierteltöne verwendeten (es kamen deren nach Ambros 22 auf die Oktave), so erscheint ihre M. zwar überreich an melodischem Material, ebendeswegen aber ungeeignet, auf dem Weg logischer Entwickelung zu innerer Selbständigkeit geführt zu werden. Besser hätte dies dem nüchtern-rationalistischen Sinn der Chinesen gelingen können, wäre derselbe mit der für künstlerischen Fortschritt nötigen Phantasie gepaart gewesen; in Ermangelung der letztern aber konnte sich die chinesische M. nicht über die primitiven Entwickelungsstufen kleinlicher Spekulation erheben und noch weit weniger über einen eng begrenzten Kreis hinaus wirken als die Werke der bildenden Kunst Chinas. Trotzdem nahm die M. im öffentlichen Leben Chinas eine hervorragende Stellung ein; man erkannte in ihr ein wirksames Mittel zur Beförderung der Sittlichkeit, und der weiseste aller chinesischen Gesetzgeber, Konfutse (500 v. Chr.), behauptete sogar, wenn man wissen wolle, ob ein Land wohl regiert und gut gesittet sei, so müsse man seine M. hören. Mit der Zeit bildete das starre Festhalten am Hergebrachten, welches in China den Fortschritt auf allen Gebieten der Arbeit erschwerte und schließlich das Land um die Früchte seiner Jahrtausende alten Kultur gebracht hat, auch für die Entfaltung der M. ein schweres Hemmnis. Als Beleg dieser überkonservativen Richtung sei nur die Thatsache erwähnt, daß die uralte fünftönige, der Quarte und Septime ermangelnde Skala (dieselbe, welche K. M. v. Weber seiner Ouvertüre zu "Turandot" zu Grunde gelegt hat) allen Reformversuchen zum Trotz noch bis in das 16. Jahrh. n. Chr. den Chinesen als Normalsystem galt. Ihr die fehlenden Intervalle aufzuzwingen, so behaupteten die Musikgelehrten, heiße so viel, wie der Hand einen sechsten oder siebenten Finger anfügen zu wollen, und selbst dem als Musikkenner allgemein anerkannten Prinzen Tsai-Yu, der sich in der ersten Hälfte des 16. Jahrh. an die Spitze der musikalischen Fortschrittspartei gestellt hatte, gelang es nicht, den Widerstand zu brechen.

Derselbe einseitige Konservatismus war es auch, welcher die künstlerisch noch weit begabtern Ägypter auf dem halben Weg ihrer Ausbildung zurückhielt. Daß die M. im öffentlichen wie im Privatleben Ägyptens eine wichtige Rolle spielte, zeigen die zahlreichen, auf fast allen Monumenten des Landes wiederkehrenden bildlichen Darstellungen von Sängern und Instrumentisten, bald einzeln, bald zu Chören und Orchestern vereint. Auch läßt die Mannigfaltigkeit der dort erscheinenden Instrumente, unter ihnen die große, reichbesaitete Harfe, auf eine gewisse äußere Pracht und Üppigkeit der ägyptischen M. schließen; indessen darf mit Recht angenommen werden, daß ihr Inhalt zu diesem Reichtum der Darstellungsmittel in keinem Verhältnis stand. Denn wie die Skulptur und Malerei Ägyptens, auf einer gewissen Ausbildungsstufe angelangt, durch den Machtspruch einer in geheimnisvollem Dunkel wirkenden Priesterkaste zur steten Wiederholung gewisser Typen gezwungen war, so auch die Dicht- und Tonkunst; diese Künste aber mußten unter den genannten Verhältnissen um so sicherer dem Zustand der Erstarrung anheimfallen, als sie zu ihrem Gedeihen die lebendige Teilnahme des Volkes am wenigsten entbehren können. In diesem Zustand zeigt sich die ägyptische Kunst noch zur Zeit Platons (4. Jahrh. v. Chr.), der in seinen "Gesetzen" (Buch 2) berichtet, daß man dort schöne Formen und gute M. wohl zu schätzen wisse; "wie aber diese schönen Formen und gute M. beschaffen sein müssen, ist von ihren Priestern bestimmt, und weder Malern, Musikern noch andern Künstlern ist es erlaubt, etwas Neues, von jenen einmal als schön erkannten Mustern Abweichendes einzuführen. Daher kommt es auch, daß ihre Gemälde und Statuen, die vor 10,000 Jahren verfertigt wurden, in keinem einzigen Stück besser oder schlechter sind als diejenigen, welche noch jetzt gemacht werden." Mußte so Ägypten, durch ein ungünstiges Geschick gehindert, seine künstlerische Mission unvollendet lassen, so bleibt ihm doch die Ehre, den beiden hervorragendsten Kulturvölkern des Altertums, den Hebräern und den Griechen, die Bahn zur Erreichung der höchsten Ziele gewiesen zu haben. Was die M. der erstern betrifft, so sind wir hinsichtlich ihrer innern Beschaffenheit lediglich auf Vermutungen angewiesen, da nicht nur keinerlei schriftliche Mitteilungen über sie vorhanden sind, sondern es auch an Monumenten des hebräischen Altertums (ein Relief des Titus-Triumphbogens in Rom mit Abbildung eines Zugs gefangener Juden ausgenommen) gänzlich mangelt. Auch die im Alten Testament überlieferten zahlreichen Angaben über musikalische Einrichtungen, Instrumente etc. bieten für jenen Mangel keinen Ersatz; und wiewohl es nicht zweifelhaft sein kann, daß die Tonkunst mit dem Kultus wie mit dem täglichen Leben der Hebräer eng verflochten gewesen ist, wiewohl ihre Dichtungen, namentlich die Psalmen Davids, nach Herders Ausspruch "vom Geiste der Tonkunst so innig durchdrungen sind, daß sie in jedem ihrer Glieder Jubel und Klang gleichsam mit sich führen", so müssen doch die Bestrebungen des Historikers, das Wesen dieser Tonkunst näher zu bestimmen und ihre Eigenart zu erforschen, bei dem Mangel an Hilfsmitteln bis auf weiteres erfolglos bleiben.

Um so lohnender ist die Beschäftigung mit der M. der Griechen, deren Praxis und Theorie durch eine große Zahl wertvoller Schriften zur Kenntnis der Nachwelt gelangt sind. Schon im Kindheitsstadium der Entwickelung Griechenlands veranlaßte das lernbegierige Naturell seiner Bewohner einen Austausch, welcher zur spätern Blüte der Nation den Grund legte. In letzterer Beziehung wirkte namentlich die Berührung mit den Ägyptern und mit den Völkern Kleinasiens belebend, auch auf dem Gebiet der M. Von Ägypten, wo dieselbe vorwiegend in ihren Beziehungen zur Mathematik und Astronomie erfaßt wurde, empfing das junge Griechenland die erste Anregung zur theoretischen Spekulation, von Kleinasien, aus der Landschaft Phrygien, dagegen ein für die praktische Tonkunst wichtiges Element: die wildleidenschaftliche M. des dort heimischen und in der Folge nach Hellas verpflanzten Dionysoskultus nebst den sie begleitenden scharf und weithin tönenden Blasinstrumenten (Aulos). Die Verschmelzung dieser phrygischen (Dionysischen) Tonkunst mit der auf strenges Maß gerichteten, durch Apollon personifizierten heimisch-dorischen vollzog sich aber in der attischen Tragödie, nachdem diese sich zur selbständigen Kunstgattung entwickelt hatte. Nach den neuesten Forschungen, namentlich R. Westphals ("Griechische Rhythmik und Harmonik"), ist es nicht zweifelhaft, daß die M. an der mächtigen Wirkung der antiken Tragödie einen Hauptanteil gehabt hat, indem nicht nur die Chöre,