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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Musik

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Musik (im Altertum).

sondern auch die Einzelreden gesungen wurden. Die Frage, wie diese M. beschaffen gewesen sei, muß freilich auch diesmal unbeantwortet bleiben, denn die spärlichen aus jener Zeit herübergeretteten, im 16. Jahrh. entdeckten Fragmente altgriechischer M. vermögen, wiewohl ihre Entzifferung neuerdings durch Friedr. Bellermann vollständig gelungen ist, keinerlei Aufschluß darüber zu geben. Nur so viel darf mit Sicherheit angenommen werden, daß sie bei völliger Abhängigkeit von der Dichtung weder an Freiheit und Selbständigkeit der Bewegung noch an Reichtum der Ausdrucksmittel der modernen M. gleichstand und jedenfalls einen der wichtigsten Vorzüge dieser letztern, die Mehrstimmigkeit, entbehren mußte; ferner, daß sie ihre Hauptwirkung im lyrischen Teil des Dramas, in den Chören, entfaltete, in denen das Zusammenwirken von Männer- und Knabenstimmen in Oktaven sowie die gelegentlich auch melodiefremde Intervalle verwendende Begleitung der Instrumente (Lyra, Kithara, Aulos) eine Art Ersatz für die mangelnde Polyphonie gewährten.

Dieser Lyrik, der sogen. chorischen, welche auch als selbständiger Kunstzweig gepflegt wurde und durch Künstler wie Ibykos und Pindar (522-442) zu hoher Blüte gelangte, stellte sich schon früh die melische Lyrik gegenüber, eine Lyrik im eigentlichen Sinn des Wortes, weil die Lyra, welche als Attribut Apollons der Kunstgattung überhaupt den Namen gegeben, hier ein wesentliches Hilfsmittel des Vortrags war. Der Hauptunterschied dieser beiden Zweige der lyrischen Kunst bestand aber darin, daß die erstere die Empfindungen einer Gesamtheit in großen Zügen zum Ausdruck brachte, während die letztere die Zustände der Einzelseele zu schildern unternahm, wobei dem musikalischen Teil, dem Melos, eine freiere Bewegung und selbständiges Hervortreten gestattet und geboten war. In diesem Vorherrschen des musikalischen Elements bestand der eigentliche Reiz der melischen Lyrik, nachdem dieselbe im 7. und 6. Jahrh. v. Chr. an der üppigen, zur Lebenslust einladenden Westküste Kleinasiens durch die dort wohnhaften ionischen und äolischen Griechen zu jener Vollkommenheit ausgebildet war, die wir an den Dithyramben eines Arion, den Liebesliedern einer Sappho, den Trinkliedern eines Anakreon bewundern, ein Reiz, mächtig genug, um die ältere bescheidenere Art des Volksgesanges, die Kunst der Rhapsoden, welche sich begnügt hatten, die Ereignisse der Heroenzeit in recitativischer Weise und ohne Begleitung eines Instruments vorzutragen, bald zu verdrängen. In dem Maß jedoch, wie die M. als Sonderkunst zu immer höherer Ausbildung gelangte, mußte sich die erhebende Wirkung vermindern, welche sie im frühern engen Verein mit der Dichtkunst ausgeübt hatte. Das musikalische Virtuosentum beginnt jetzt in den Vordergrund zu treten, die Tonkunst strebt, sich mehr und mehr von der Dichtkunst zu emanzipieren. Wie aber die M., so hatte auch die Sprache um eben diese Zeit (5. Jahrh. v. Chr.) durch das Aufblühen der sophistischen Philosophie eine Bereicherung erfahren, die sie veranlaßte, auch ihrerseits eigne Wege zu gehen, und es vollzieht sich die Scheidung der M. von der Poesie. Von nun an wird der Niedergang der griechischen Kunst unaufhaltsam; am wenigsten vermochte die Tragödie ihre Bedeutung als Gesamtkunstwerk zu wahren, nachdem die Vereinigung des Dichters und Komponisten in Einer Person, wie solche noch bei Äschylos und Sophokles bestanden hatte, durch eine kunstgeschichtliche Notwendigkeit aufgehoben und dadurch das einheitliche Wirken ihrer beiden wichtigsten Faktoren unmöglich gemacht war. Schon Euripides mußte die musikalische Komposition seiner Dramen einem andern, fachmännisch Gebildeten überlassen, und in seiner Dichtung waltet verstandesmäßige Berechnung anstatt des dithyrambischen Schwunges der frühern Dramatiker vor. Der Verlust der nationalen Selbständigkeit Griechenlands infolge der Schlacht bei Chäroneia (338 v. Chr.) vollendet das Zerstörungswerk und beschließt eine Kunstepoche, die ungeachtet ihrer kurzen Dauer von nur anderthalb Jahrhunderten an Bedeutsamkeit ihrer Errungenschaften von keiner spätern erreicht worden ist.

Die nächstfolgenden Jahrhunderte würden als musikalisch unfruchtbar zu bezeichnen sein, wäre nicht an Stelle des erstorbenen Kunstgeistes die Wissenschaft thätig gewesen, um den praktischen Gewinn der vorangegangenen schöpferischen Periode theoretisch zu befestigen. Während ein Platon, ein Aristoteles das Wesen der M., ihre ethische und ästhetische Bedeutung zum Gegenstand ihrer Forschungen machen, findet die Theorie ihren Hauptvertreter in Aristoxenos von Tarent (um 350 v. Chr.), einem Schüler des Aristoteles, welcher auf Grund der bereits zwei Jahrhunderte früher durch Pythagoras angestellten Forschungen die Musiklehre nach mathematischer, physikalischer und akustischer Seite zu einem den Zeitverhältnissen entsprechenden Abschluß brachte. Das von ihm überlieferte griechische Musiksystem unterscheidet sich von dem modernen im wesentlichen dadurch, daß nicht die Oktave, sondern eine Reihe von vier Tönen im Umfang einer reinen Quarte, das Tetrachord (s. d.), seine Grundlage bildet. Das Tetrachord, welches stets zwei Ganztöne und einen Halbton umfaßt, heißt je nach der Stellung dieses Halbtons dorisch (wenn er in der Tiefe liegt, z. B. EF-G-A, phrygisch (wenn er in der Mitte liegt, z. B. D-EF-G) oder lydisch (wenn er in der Höhe liegt, z. B. C-D-EF). Aus der Zusammensetzung zweier dorischer, phrygischer oder lydischer Tetrachorde entstehen die gleichnamigen Oktavengattungen (griech. Harmonia), zu denen in der Folge noch vier weitere, mit den übrigen Tönen der diatonischen Skala beginnende hinzukamen, nämlich H-h (Mixolydisch), A-a (Hypodorisch), G-g (Hypophrygisch), F-f (Hypolydisch). Die drei letztern sind jedoch nicht als selbständige Tonarten anzusehen, sondern sie dürfen nur als Umstellungen der drei erstern gelten, deren höhere Hälfte, die Quinte, zur tiefern wurde, z. B.

^[img] Dorisch. Quarte Quinte | Hypodorisch. Quinte Quarte

Neben diesem System der Oktavengattungen war aber noch ein andres im Gebrauch, die Transpositions-Skala (Tonos), d. h. eine zwei Oktaven umfassende Mollskala, welche dadurch entstand, daß man der dorischen Oktavengattung E-e noch ein dorisches Tetrachord in der Tiefe und eins in der Höhe zufügte (beide in so enger Verbindung, daß die Grenztöne zusammenfielen) und schließlich diese Reihe durch einen Ton in der Tiefe, den "hinzugenommenen" (Proslambanomenos), vervollständigte:

^[img] Dorische Oktavengattung