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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Niederlande

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Niederlande (Geschichte: neueste Zeit).

teiinteressen beherrscht. Dies zeigte sich, als im Januar 1862 Thorbecke zum zweitenmal an die Spitze der Regierung trat. Dieser reformierte das Steuersystem, indem er die Accise gänzlich abschaffte, erlangte die Zustimmung zu wichtigen öffentlichen Anlagen (direkten Kanälen von Amsterdam und Rotterdam bis zur See), scheiterte aber an dem Versuch, die Verwaltung der Kolonien umzugestalten und den 1830 auf Java eingeführten Kulturzwang, ein hartes, aber für den Staat einträgliches Fronsystem, abzuschaffen; nur der Bau der ersten Eisenbahn auf Java wurde genehmigt und die Sklaverei in Westindien aufgehoben.

Das neue konservative Kabinett Zuylen van Nyvelt (28. Mai 1866) hatte die luxemburgische Frage zu lösen. Während des Kriegs zwischen Preußen und Österreich 1866 hatten sich die N. neutral verhalten, obwohl die Sympathien der höhern Kreise und des Hofs, an dem die Königin Sophie, eine württembergische Prinzessin, als entschiedenste Feindin Preußens den Ton angab, auf seiten Österreichs gewesen waren. Bei der Neuordnung der deutschen Angelegenheiten kam es der niederländischen Regierung hauptsächlich darauf an, Limburg von der Verbindung mit Deutschland loszulösen. An Luxemburg zeigte sie gar kein Interesse, und als der König sich 1867 veranlaßt sah, Luxemburg an Frankreich zu verkaufen, stieß dieser Plan nirgends auf Widerstand. Nur die Regierung wollte den Verkauf nicht ohne Zustimmung Preußens genehmigen, weil sie befürchtete, daß dieses dann für Deutschland auf Limburg Anspruch erheben möchte. Daß Zuylen durch seine Mitteilung an Preußen den Verkauf Luxemburgs zum Scheitern brachte und dann den Londoner Garantievertrag über die Neutralität Luxemburgs unterzeichnete, wurde aber von der Kammer, namentlich von Thorbecke, heftig getadelt und das Kabinett Zuylen, obwohl es die Loslösung Limburgs von Deutschland erreichte, durch Verwerfung seines Budgets 28. April 1868 gestürzt, nachdem es sich vergeblich durch Auflösung und Neuwahlen der Generalstaaten zu halten gesucht hatte.

Erst Fock, dann Thorbecke (Anfang 1871) bildeten neue liberale Ministerien, welche den drückenden Zeitungsstempel und die Todesstrafe abschaffen. Wider Willen sahen sie sich auch genötigt, die Frage der Heeresreform in die Hand zu nehmen. Der deutsch-französische Krieg 1870/71 erregte die Gemüter in den Niederlanden um so mehr, als er deren Interessen nahe berührte. Die leitenden Kreise hatten das Emporkommen Preußens, auf das sie bisher herabgesehen hatten, und mit dem sie nun rechnen mußten, mit Neid und Eifersucht beobachtet und bewirkten es, daß bei Beginn des Kriegs die Armee so aufgestellt wurde, daß sie im Fall des sicher erwarteten Siegs der Franzosen in Deutschland feindlichem Sinn eingreifen konnte. Die gewaltigen und raschen Erfolge der Deutschen zwangen nun zwar die N. zu einer strengen Neutralität, erregten aber die Furcht vor deutschen Annexionsabsichten auf die N. selbst oder wenigstens ihre Kolonien. Unter diesen Umständen hielt selbst Thorbecke, der bisher sowohl als Abgeordneter wie als Minister stets für die größtmögliche Beschränkung des Militärbudgets eingetreten war, eine Verstärkung der Verteidigungsmittel durch neue Festungsanlagen und Vermehrung der Streitkräfte für unvermeidlich. Aber keinem Ministerium gelang es, die Kammern zu einem entscheidenden Beschluß über die Heeresreform, namentlich die Frage der allgemeinen Dienstpflicht, zu bewegen, da niemand die Verantwortlichkeit für die dem Land aufzuerlegenden Opfer an Geld und Menschen auf sich nehmen wollte. Nur ein Festungsgesetz wurde nach dem Tode Thorbeckes (4. Juni 1872) von dem Ministerium Fransen van den Putte durchgebracht. Die gleiche Selbstsucht und Kurzsichtigkeit bewiesen die Liberalen, als es sich um die Einführung einer Einkommensteuer (Kapital- oder Rentensteuer) und um ein neues Wahlgesetz, welches den Zensus herabsetzen sollte, handelte; beide Entwürfe wurden abgelehnt, weil sie die Interessen der herrschenden Klassen zu verletzen schienen.

Das liberale Ministerium Fransen van den Putte scheiterte wiederum an der Kolonialpolitik. Im Dezember 1871 hatten die N. ihre Besitzungen in Guinea an England verkauft und dafür dessen Zustimmung zur Ausbreitung ihrer Herrschaft auf Sumatra erlangt. Die Regierung hatte darauf vom Sultan von Atschin (s. d.) Unterwerfung unter gewisse Bedingungen gefordert und, als er das ablehnte, 1873 Krieg gegen ihn begonnen. Der erste Feldzug scheiterte aber gänzlich, und auch als General van Swieten im Januar 1874 den Kraton, die Hauptfestung der Atschinesen, erobert hatte, war damit wenig gewonnen, während das mörderische Klima ungeheure Opfer an Menschenleben forderte und die Rüstungen große Ausgaben verursachten. Fransen machte daher im Juli 1874 einem konservativen Ministerium Heemskerk Platz, welches sich durch geschicktes Lavieren bis zum September 1877 behauptete. Die liberale Mehrheit in den Kammern war inzwischen so angewachsen, daß ihr Führer Kappeyne die Bildung eines liberalen Ministeriums zur Durchführung wichtiger Reformen wagte (November 1877). Aber nur ein neues Schulgesetz, welches das von 1857 durch Erhöhung des Staatszuschusses und Verstärkung der staatlichen Aufsicht bei den Volksschulen ergänzte, setzte er 1878 durch. Dagegen lehnten die Kammern das Wehrgesetz, die Rentensteuer und ein Kanalgesetz ab, und das Defizit erreichte eine so bedenkliche Höhe (40 Mill.), weil der Krieg in Atschin alle Überschüsse des Kolonialbudgets verschlang, daß Kappeyne 1879 zurücktrat. Das mittelparteiliche Kabinett van Lynden führte nur die Regierung weiter, ohne außer einem neuen Strafgesetzbuch (1881) gesetzgeberische Thaten zu versuchen; unter ihm wurde 1879 der Krieg in Atschin durch General van der Heyden siegreich beendet, wenn auch die völlige Unterwerfung des Landes damit keineswegs erreicht wurde.

Das Verlangen nach einer Verfassungsreform wurde inzwischen immer dringender laut, und Heemskerk, der wegen der Uneinigkeit der Liberalen 1883 ein "außerparlamentarisches" Ministerium bildete, nahm nun die Verfassungsrevision energisch in die Hand. Dieselbe war um so nötiger, als mit dem Tode des Kronprinzen Alexander (21. Juni 1884) die männliche Deszendenz des Königs erlosch, auch außer dem hochbetagten König kein andrer männlicher Sproß des Königshauses vorhanden war und daher die Thronfolge gesetzlich geregelt werden mußte. Heemskerk beantragte, den Wahlzensus herabzusetzen, das Land von neuem in Wahlbezirke einzuteilen, die Mitgliederzahl der Ersten Kammer auf 50, die der Zweiten auf 100 zu bestimmen und die Thronfolge in der Weise zu ordnen, daß zuerst die Tochter des Königs, Prinzessin Wilhelmine, dann seine Schwester, die Großherzogin von Weimar und ihre Kinder, zuletzt die Nachkommen der Geschwister seines Vaters erbberechtigt sein sollten; die allgemeine Wehrpflicht ward nicht berührt. Aber bei den Neuwahlen, welche nach der Auslösung der Generalstaaten Anfang 1885 stattfanden, wurden gerade so viel Liberale als Antiliberale (43) gewählt,