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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Niederlande

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Niederlande (Geschichte: 19. Jahrhundert).

Waterloo rühmlichen Anteil genommen hatten, noch ein bisher französischer Landstrich mit den Festungen Marienburg und Philippeville. Von ihren Kolonien erlangten die N. bloß die ostindischen Inseln, einen Teil von Guayana und einige kleinere Besitzungen in Amerika und Afrika zurück; Ceylon, das Kapland und Demerara behielt England.

Den durch belgische Notabeln verstärkten Generalstaaten wurde eine neue Verfassung vorgelegt und, obwohl die Mehrheit der Belgier sich dagegen aussprach, 24. Aug. 1815 für angenommen erklärt; die Generalstaaten wurden in zwei Kammern eingeteilt, in welche Belgien und Holland eine gleiche Anzahl Deputierte schickten. Der König widmete sich mit Erfolg vor allem der Regelung der Finanzen und der Hebung des Handels, wozu der Bau des Nordholländischen Kanals, die Wiederherstellung des fiskalischen Kolonialsystems in Indien und die Gründung der Niederländischen Handelsgesellschaft (1824) wesentlich beitrugen. Indes die Schwierigkeit, das neuerworbene Belgien mit den nördlichen Niederlanden zu verschmelzen, vermochte er nicht zu überwinden. Die beiden Teile der N. waren zu lange voneinander getrennt gewesen und hatten sich zu verschieden entwickelt. Die nördlichen Provinzen wollten die Einkünfte aus hohen Grundsteuern und Luxusabgaben ziehen, die südlichen, vorzugsweise Ackerbau und Industrie treibend, die Zölle erhöhen. Die große Schuldenlast der N. (1000 Mill. Gulden) wurde von Belgien nur mit Unwillen getragen. Der Vorteil der Kolonien kam den südlichen Handelsstädten nur langsam zu gute und wurde von den nördlichen mit Eifersucht beobachtet und möglichst verkümmert. Obwohl die Regierung ein Konkordat mit dem Papst schloß (25. Juli 1827) und drei neue Bistümer in Amsterdam, Brügge und Herzogenbusch errichtete, vermochte sie doch das Mißtrauen des katholischen Klerus nicht zu beseitigen, während die belgischen Liberalen, überwiegend Wallonen, durch das Streben der Regierung, bei den öffentlichen Geschäften die holländische oder vlämische Sprache zur Herrschaft zu bringen, abgestoßen wurden und zu Frankreich neigten. Durch die Vereinigung der Klerikalen und der französisch gesinnten Liberalen kam es infolge der Julirevolution 1830 zum Ausbruch der belgischen Revolution (s. Belgien, Geschichte, S. 655).

Wilhelm I. versuchte zuerst durch Waffengewalt die südlichen Provinzen wieder unter seine Botmäßigkeit zu bringen. Dies mißlang im Oktober 1830; im August 1831 aber besiegte der Prinz von Oranien die Belgier bei Hasselt (8. Aug.) und bei Tirlemont (11. Aug.) und drohte Belgien zu unterwerfen. Doch hatten die Mächte sich schon im Londoner Protokoll vom 26. Juni 1831 für die Trennung Belgiens von den Niederlanden ausgesprochen, und mit ihrer Genehmigung intervenierte Frankreich zu gunsten Belgiens, drängte die Holländer zurück, nahm 23. Dez. 1832 die Citadelle von Antwerpen und blockierte in Verbindung mit England die niederländischen Küsten. Dem Kriegsstand wurde durch die Londoner Übereinkunft vom 21. Mai 1833 ein Ende gemacht. Aber Wilhelm weigerte sich lange, die Unabhängigkeit Belgiens anzuerkennen, obwohl die 24 Artikel vom 15. Nov. 1831 den Niederlanden das deutsche Luxemburg, einen Teil von Limburg und eine von Belgien zu zahlende jährliche Rente von 8,400,000 Gulden als Beitrag zu den Zinsen der Staatsschuld zusprachen.

Erst 1838 erklärte sich der König zu deren Annahme bereit, und 19. April 1839 kam der Friede zwischen den Niederlanden und Belgien zu stande, durch welchen die belgische Rente auf 5 Mill. verringert wurde. Das östliche Luxemburg und Limburg (ohne Maastricht und Venloo) sollten zum Deutschen Bund gehören, und Luxemburg wurde daher bloß in Personalunion mit den Niederlanden vereinigt, Limburg jedoch mit dem neuen Königreich verschmolzen, das nur noch zehn, aber durch Sprache und Geschichte innig verbundene Provinzen zählte.

Neueste Zeit.

Das Gefühl der Demütigung, welches Wilhelm I. über dieses Ende des von ihm gegründeten Reichs empfand, die Unzufriedenheit des Volkes mit den erhöhten Geldforderungen der Regierung und das allgemeine Verlangen nach einer durchgreifenden Verfassungsreform bewogen den König, 7. Okt. 1840 zu gunsten seines Sohns abzudanken und sich mit einem ungeheuern Vermögen, das er durch Handelsspekulationen erworben, nach Berlin zurückzuziehen, wo er 12. Dez. 1843 starb. Wilhelm II. (1840-49) bewilligte sofort die Verantwortlichkeit der Minister und verringerte den Stand des Heers um ein Bedeutendes. Dadurch erlangte er die Zustimmung der Generalstaaten zu einer außerordentlichen Vermögenssteuer, zur Rentenumwandlung behufs Verminderung der Zinsen und zu einer freiwilligen Anleihe, wodurch die Finanzen in Ordnung gebracht und die Mittel für den Bau von Eisenbahnen und die Trockenlegung des Haarlemer Meers gewonnen wurden. Zu der Verfassungsreform entschloß er sich aber erst nach der Februarrevolution 1848. Eine verdoppelte Zweite Kammer trat 18. Sept. 1848 zusammen und ließ durch einen Ausschuß unter Thorbeckes Vorsitz einen liberalen Verfassungsentwurf ausarbeiten, der die Einteilung der Provinzialstaaten in Stände abschaffte und für die Zweite Kammer direkte Wahlen, allerdings mit einem hohen Zensus, vorschrieb. Das neue Grundgesetz wurde 3. Nov. 1848 verkündet. Nicht lange darauf, 17. März 1849, starb Wilhelm II.

Sein Sohn Wilhelm III. berief den Urheber der neuen Verfassung, Thorbecke, 30. Okt. an die Spitze eines durchaus freisinnigen Ministeriums, das durch wichtige organische Gesetze, wie das über Versammlungsrecht, eine Provinzial- und Gemeindeordnung und eine Gerichtsorganisation, die Grundsätze der Verfassung verwirklichte und durch zweckmäßige Finanzgesetze die materielle Lage des Landes verbesserte. In allzu doktrinärer Ausführung des Verfassungsartikels über die Freiheit und Unabhängigkeit der Kirchen vom Staat schloß aber Thorbecke 1852 einen Vertrag mit der römischen Kurie, in dem er alle Aufsichtsrechte des Staats über die katholische Kirche preisgab und die Errichtung von fünf neuen Bistümern in den Niederlanden gestattete. Die päpstliche Allokution vom 7. März 1853, welche dies verkündete, erregte einen Sturm der Entrüstung in der protestantischen Bevölkerung, die der König, des herrschsüchtigen Ministers überdrüssig, in seiner Antwort auf die Adresse von Amsterdam billigte (15. April). Thorbecke forderte und erhielt darauf seine Entlassung, und ihm folgten nun einige konservative Ministerien unter van Hall, van der Brugghen, Zuylen u. a., die sich aber nur dadurch im Amt zu halten vermochten, daß sie auf alle reaktionären Wünsche einer Verfassungsrevision verzichteten und 1857 sogar ein ganz liberales Unterrichtsgesetz, welches den Religionsunterricht aus allen staatlichen Elementarschulen ausschloß, in den Kammern zur Annahme brachten. Dafür ließen die Liberalen das bestehende Kolonialsystem unangefochten. Die Liberalen hatten die Mehrheit in den Generalstaaten, waren aber zerfahren und von Par-^[folgende Seite]