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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Niederländische Litteratur

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Niederländische Litteratur (Philologie).

Wissenschaftliche Litteratur.

Ungleich erfolgreicher als auf dem Felde der poetischen Litteratur erscheint die Thätigkeit der Niederländer auf wissenschaftlichem Gebiet: hier sind ihre Leistungen in verschiedenen Fächern groß und umfassend und haben einen bedeutenden Einfluß auf die allgemeine litterarische Kultur ausgeübt. Schon im frühen Mittelalter war das Land durch seine vorzüglichen Schulen ein berühmter Sitz wissenschaftlicher Studien und die Bildungsstätte, aus welcher zahlreiche ausgezeichnete Gelehrte und Staatsmänner Deutschlands wie Frankreichs hervorgingen. Obenan standen unter denselben die Klosterschulen zu Utrecht und zu St.-Amand in Flandern, wo Hucbald (s. d.) lehrte, die Schulen zu Lüttich, zu Lobbes in der Diözese Cambrai, zu Stablo unfern Lüttich, zu Gemblours in Brabant u. a., die bis ins 12. Jahrh. blühten. Als die meist dem Benediktinerorden zugehörigen Klosterschulen mit diesem selbst allmählich in Verfall gerieten, traten die Domschulen an ihre Stelle, die auch den Laien zugänglich waren und namentlich zur Ausbildung des jungen Adels dienten (am berühmtesten die zu Mecheln und zu Doornik) sowie später (seit dem 14. Jahrh.), die aus bürgerlichen Kreisen hervorgegangen Korporation der "Brüder des gemeinsamen Lebens" (s. d.), die neben der Erweckung echt christlicher Gesinnung sich besonders die Erziehung und Bildung der Jugend zur Aufgabe stellte, und aus deren bald über das ganze Land verbreiteten Schulen eine große Anzahl der hervorragendsten Gelehrten (darunter z. B. Rudolf Agricola und Erasmus von Rotterdam) hervorgingen. Durch diese Gelehrten, die meist ihre Bildung in Italien vollendeten, wurde das eben neuerwachte Studium der klassischen Litteratur nach dem Norden verpflanzt und dadurch vorzugsweise der Reformation der Weg gebahnt, durch deren Einführung in den Niederlanden das wissenschaftliche Leben daselbst einen neuen Impuls erhielt, wie sie anderseits zum Befreiungskampf gegen die spanische Gewaltherrschaft und schließlich zur nationalen Selbständigkeit des Landes führte. Von jetzt an knüpft sich die Weiterentwickelung der Wissenschaften in den Niederlanden an die Universitäten, deren im 16. und 17. Jahrh. in den nördlichen Provinzen (Holland) fünf neue (die erste zu Leiden 1875, dann zu Franeker, Utrecht, Groningen und Harderwijk) gegründet wurden, die nicht nur als Hauptsitze der Gelehrsamkeit, sondern auch als Vertreter des protestantischen Geistes und als Hochburgen der Denk- und Gewissensfreiheit, im Gegensatz zu den ältern, an den Satzungen der katholischen Kirche streng festhaltenden Hochschulen (namentlich der zu Löwen), bald zu großem Ansehen gelangten und von wißbegierigen Jünglingen aus ganz Europa besucht wurden.

Unter den einzelnen Disziplinen, welche daselbst mit besonderm Fleiß und Erfolg kultiviert wurden, nimmt die Philologie die erste und breiteste Stelle ein. Während das Studium des klassischen Altertums mit dem Anfang des 17. Jahrh. in Italien zu sinken begann, fand es gerade auf den holländischen Universitäten die sorgsamste Pflege und hat sich dieser Teilnahme bis in die Neuzeit fast ununterbrochen zu erfreuen gehabt. Noch im 16. Jahrh. zeichneten sich durch philologische Gelehrsamkeit besonders die Professoren zu Löwen, Peter Nannius (gest. 1557) und W. Canter (gest. 1573), aus; als scharfsinnige Kritiker sind Lucas Fruytier (Fruterius) in Brüssel und Justus Lipsius (gest. 1606) zu nennen. Lebendiger noch entwickelte sich der Eifer für die humanistischen Studien in dem freien Norden besonders an der Universität zu Leiden, deren erster Kurator, der Staatsmann Jan Douza (gest. 1606), zugleich zu den bedeutendsten Gelehrten jener Zeit gehörte. Es bildete sich daselbst eine neue Art von Wissen, die sogen. Polyhistorie, aus, die man als Nachfolgerin des italienischen Humanismus betrachten kann. Die Leidener Gelehrten gingen nämlich bei ihren Bemühungen um die alten Schriftsteller wohl auch auf die Verbesserung der Texte und auf das Sprachliche aus; aber sie suchten insbesondere die Realien, die sogen. Altertümer, zu erklären und sammelten zu diesem Zweck eine Unmasse von Kenntnissen auf. Es wurde nicht nur das Staatswesen, die Chronologie, die Münzkunde behandelt, sondern auch die Trachten der Griechen und Römer, ihr Gottesdienst, ihr Hauswesen, ihre Schiffahrt, ihre Kriegswaffen, ihre Belagerungskunst etc. in Betracht gezogen, um so das Altertum in seiner Totalität wiederzugewinnen. Als Begründer dieser Richtung galt Joseph Justus Scaliger, der seit 1592 in Leiden lehrte und 1609 daselbst starb. Unter den Nachfolgern auf der von ihm gebrochenen Bahn sind hervorzuheben: der vielseitige Gelehrte und Staatsmann Hugo Grotius (gest. 1645), die ausgezeichneten Gelehrten Gerhard Joh. Vossius (gest. 1649) und Daniel Heinsius (gest. 1655) und die aus Deutschland eingewanderten Joh. Friedr. Gronovius (gest. 1671), der eigentliche Stifter der holländischen Latinistenschule, und der gleichberühmte, aber schon ziemlich oberflächliche Joh. G. Grävius (gest. 1703), mit dem der Verfall des philologischen Studiums beginnt, das dann in P. Burmann (gest. 1741) u. a. zur Kompilation herabsinkt. Um die historische Kenntnis des Altertums insbesondere machten sich Joh. Meursius (gest. 1639) und Claudius Salmasius (gest. 1653) verdient, letzterer ein Riese an Gelehrsamkeit, der aber sein ungeheures Material nicht geistig zu sichten und zu verknüpfen verstand. Eine zweite Glanzperiode der holländischen Philologie begann um die Mitte des 18. Jahrh., hervorgerufen durch den Leidener Professor Tiberius Hemsterhuis (gest. 1766), den Stifter der holländischen Hellenistenschule, zu welcher als Hauptvertreter derselben David Ruhnkenius, einer der größten Philologen des Jahrhunderts (gest. 1798), L. K. Valckenaer (gest. 1785) und Dan. Wyttenbach (gest. 1820) gehörten. Von jüngern verdienen Hervorhebung: die Gräzisten van Heusde (gest. 1859), Cobet, van Herwerden etc.; die Latinisten Hofman-Peerlkamp (gest. 1825), J. ^[Jan] Bake (gest. 1864), Naber u. a. Auch in der lateinischen Poesie haben sich von alters her die Niederländer zahlreich und mit Vorliebe versucht; es werden weit über 300 Dichter dieser Art verzeichnet (vgl. Neulateinische Dichter). Das Studium der orientalischen Sprachen wurde ebenfalls bereits im 17. Jahrh. gefördert und zwar vorzugsweise durch Th. Erpenius und J. ^[Jacobus] Golius, der ein arabisches und persisches Wörterbuch herausgab, im 18. Jahrh. durch Reland und namentlich Albr. Schultens (gest. 1750), der den Nachweis der Verwandtschaft der semitischen Sprachen führte u. darauf zuerst ein methodisches Studium derselben begründete. Aus seiner Schule gingen zahlreiche verdienstliche Orientalisten hervor, wie sein Sohn Joh. Jakob und sein Enkel Heinr. Albert Schultens, N. W. Schröder, E. Scheidius, Greeve und besonders Hamaker, denen sich später Roorda, Weyers, Juynboll, Uylenbroek und in jüngster Zeit Dozy, Land, de Goeje u. a. anreihten. Auch die Sprachen des Indischen Archipels fanden seit den