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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Norwegische Litteratur

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Norwegische Litteratur (Selbständigkeit im 19. Jahrh.).

eine solche Veränderung nicht auf einmal eintreten. Diejenigen, welche in den ersten Jahren der Selbständigkeit in Norwegen das Wort führten, waren noch in Dänemark gebildet worden und hatten dort ihre litterarischen Vorbilder gesucht und gefunden. Allerdings werden schon bald die nationalen Bestrebungen mehr und mehr sichtbar, doch treten sie noch immer recht naiv, ohne scharfes Bewußtsein ihrer Bedeutung und ohne polemische Gereiztheit hervor. Erst nach etwa anderthalb Jahrzehnten gelingt es ihnen, sich auch in der Litteratur in planmäßiger und wirksamer Weise geltend zu machen.

Die Periode von 1814 bis 1830 ist somit die Periode des planlosen Tastens und Suchens. Das Hauptmerkmal dieses Zeitraums ist ein überschwengliches Nationalitätsgefühl ("Norskhed"). Das Thema von "Norwegens Gebirgen und Wasserfällen" und die Redensart von "freien, selbständigen Bauern" werden in allen möglichen Tonarten wiederholt. Aber über diese rein rhetorische, schwülstige Lyrik sowie über allzu empfindsame Idylle und ebensolche Novellen kommt man in dieser Periode noch nicht hinaus. Die Hauptvertreter dieser von den besten Absichten beseelten, aber ziemlich krankhaften Litteraturrichtung waren Mauritz C. Hansen, C. N. Schwach und H. A. Bjerregaard. Hansen (1794-1842), der fruchtbarste und wohl auch der hervorragendste unter ihnen, hat eine große Anzahl von Romanzen, Idyllen und sonstigen Erzählungen geschrieben, die von einer leicht beweglichen Phantasie, aber auch von einer krankhaft überreizten Empfindsamkeit Zeugnis ablegen. Auch Schwach und Bjerregaard waren in erster Linie Lyriker, ersterer besonders Gelegenheitsdichter und Sänger der harmlosen gesellschaftlichen Munterkeit, während Bjerregaard sich auch noch als Verfasser des ersten nationalen Dramas ("Fjeldeventyret") ein gewisses Verdienst erworben hat. An diese drei schließen sich einige Namen zweiten Ranges an, wie J. St. ^[Johan Storm] Munch, H. Foß, S. O. Wolff u. a. Zum eigentlichen Bewußtsein seiner Eigentümlichkeit kam aber das norwegische Litteraturleben erst in der zweiten halben Generation, welche man von 1830 bis 1845 rechnen und als die Sturm- und Drangperiode bezeichnen kann. Sie wird besonders durch Henrik Wergeland (1808-1845) vertreten. Durch seine glühende Begeisterung für die Freiheit und Selbständigkeit des Vaterlandes erhielt das norwegische Nationalgefühl als solches und mit scharfer Betonung des öffentlichen Lebens recht eigentlich seinen dichterischen Ausdruck. Aber indem es hier rücksichtslos dahinstürmte und den Zusammenhang mit überlieferten Kulturelementen, ja sogar die Annahme einer allgemein gültigen Kunstform verschmähen zu wollen schien, mußte diese Selbständigkeitsbegeisterung auch Widerstand wecken. Der Konservatismus und das Formprinzip fanden ihren ersten Vorkämpfer in dem etwas pedantischen und maßlos persönlichen J. S. ^[Johan Sebastian] Welhaven (1807-1873), welcher die hohlen patriotischen Redensarten aufzudecken suchte, die indes bei Wergeland noch nicht so sehr hervortreten wie bei vielen seiner Nachbeter. Der Kampf begann mit einer Plänkelei von Epigrammen zuvörderst innerhalb des Norwegischen Studentenvereins, nahm aber nach und nach größere Ausdehnung an, indem Welhaven öffentlich mit einer heftigen Streitschrift gegen "Henrik Wergelands Charakter som Digter og Menneske" hervortrat, welche Schrift nicht von diesem selbst, sondern von seinem Vater, dem Propst N. Wergeland, beantwortet wurde. Die Bedeutsamkeit des Streits erhellt nicht nur aus der Menge von Flugschriften und Zeitungsartikeln in Versen und in Prosa, welche er hervorrief, sondern noch mehr daraus, daß er mannigfache Zersplitterung im öffentlichen Leben bewirkte, indem z. B. die Studentenwelt, die damals eine gewisse tonangebende Rolle spielte, sich in zwei Parteien spaltete: Samfundet, in welcher die Wergelandschen Tendenzen herrschend wurden, und Forbundet, welche wesentlich die Kritik vertrat und ein eignes Organ, "Vidar", herausgab. Welhavens letzter Beitrag dazu war sein Streitgedicht "Norges Dämring" (1834), das eine neue hitzige Fehde in Zeitungen und Abhandlungen hervorrief. Späterhin legte sich die Fieberhitze des Kampfes allmählich. Den dritten Dichterrang dieser Periode nimmt And. Munch (1811-84) ein. Er ist besonders Elegiker und Sänger des frommen Gefühls. Als Romantiker erinnert er sehr stark an Öhlenschläger, dessen Einfluß sich besonders in seinen dramatischen Arbeiten fortwährend nachweisen läßt, während seine glatte Form ihn als mit Welhaven verwandt erscheinen läßt. Doch reicht er an keins dieser beiden Vorbilder auch nur annähernd heran. Am meisten ist er bekannt geworden durch seine Gedichtsammlung "Sorg og Trøst" ("Trauer und Trost") sowie durch seinen Romancyklus "Kongedatterens Brudefart" ("Die Brautfahrt der Königstochter"). Im eigentlichen Volk ist Munch übrigens niemals sonderlich bekannt geworden; hier ist noch immer Wergeland der gelesenste. In der dritten Periode, nach Wergelands Tod (1845), hat in der norwegischen Litteratur eine größere Ruhe geherrscht. Es kam zunächst ein Nachwuchs von geringern Dichtern, welche meist schon während jener Kampfzeit ihr wesentliches Gepräge erhalten hatten, wie P. A. Jensen, Silvester Sivertson, Chr. Monson, Nils Dahl, H. Ö. Blom, Rolf Olsen u. a. Eine kritische Zeitschrift, geleitet von C. Lange, später von Monrad und Hjelm, hatte inzwischen dazu beigetragen, die Gemüter zu beruhigen und das Urteil zu klären; das tiefere Eindringen in das Leben und die Sitten des Volkes bildete von nun an ein wesentliches und allgemeines Interesse. Besonders erfolgreich wirkte in dieser Richtung Peter Chr. Asbjörnsen (1812-85), der im Verein mit dem Bischof Jörgen Moe (geb. 1813) eine Sammlung norwegischer Volksmärchen und Sagen ("Norske Huldreæventyr og Folkesagn", 1845-48) herausgab und dadurch wesentlich dazu beitrug, das Interesse für Volksleben und Volksdichtung in weite Kreise hineinzutragen. Auch die Volksliedersammlung von Magnus Brostrup Landstad und dem Sprachforscher Sophus Bugge (welcher sich Lindemans Bearbeitung von Volksmelodien anschließt) lieferte schätzbare Beiträge zur Begründung einer starken volkstümlichen Litteratur. Als Verfasser trefflicher Naturschilderungen und Skizzen aus dem Volksleben, die sich zum nicht geringen Teil durch große Anschaulichkeit und ebenso einfache wie ergreifende Darstellung auszeichnen, sind namentlich H. Henrik Schultze ("Fra Lofoten og Solör"), Nicolai Østgaard ("En Fjeldbygd"), Bernh. Herre ("En Jægers Erindringer") und Harald Meltzer ("Smaabilleder af Folkelivet") anzuführen. Dazu kamen Ivar Aasens Handbuch der "Bauernsprache" sowie seine verschiedenen Abhandlungen über Dialekte und seine gefühlswarmen Dichtungen in der Mundart der Landbevölkerung. Hauptsächlich durch Aasens Bestrebungen veranlaßt, kam das Studium des Dialekts, "der reinen norwegischen Sprache", immer mehr in Aufnahme, und es bildete sich sogar eine eigne Partei, die sogen. Maalstræver ("Sprachstreber"), welche den Bauerndialekt zur Schrift- u. Schulsprache