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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Österreichisch-Ungarische Monarchie

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Österreichisch-Ungarische Monarchie (Geschichte: 1869-1870).

Leben regte sich, der Wohlstand hob sich, die produktive Thätigkeit in allen Zweigen des Erwerbes war entfesselt. Die peinliche Sparsamkeit der Regierung hatte das Defizit fast beseitigt und neue Anleihen vermieden, so daß die Kapitalien für produktive Unternehmungen flüssig wurden. Österreich spielte eine bescheidenere Rolle in Europa als früher, nahm aber immer noch eine geachtete und ehrenvolle Stellung ein, nur daß die auswärtige Politik nicht mehr so wie früher seine innern Verhältnisse beherrschte. Der Reichskanzler Graf Beust hatte allerdings ebensowenig wie der Hof und das Heer auf jede Wiedervergeltung für 1866 verzichtet und sich seit 1867 Frankreich in auffälliger Weise genähert. Wenigstens Süddeutschland hoffte er dem preußischen Machtbereich vorenthalten zu können. Aber seine Politik war durchaus vorsichtig und vermied jede Herausforderung. Als 1870 der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich ausbrach, rüstete Österreich allerdings, um bei der Regelung der deutschen Verhältnisse im Frieden seinen Wünschen Nachdruck geben, vielleicht auch in den Kampf selbst eingreifen zu können. Die Schnelligkeit und Entschiedenheit der deutschen Erfolge benahmen Österreich aber die Möglichkeit hierzu, und es mußte sich in die unabänderliche Thatsache der Vereinigung ganz Deutschlands unter preußischer Führung fügen, was Beusts Antwortsnote vom 26. Dez. 1870 auf die Depesche vom 14. Dez., in welcher Bismarck die Gründung des Deutschen Reichs anzeigte und die Hoffnung auf freundschaftliche Beziehungen desselben zu Österreich aussprach, in entgegenkommender Weise kundthat.

Die größte Schwierigkeit, auf welche das Bürgerministerium unter Taaffe (Auersperg war 24. Sept. 1868 zurückgetreten) bei seinen liberalen und zentralistischen Bestrebungen stieß, kam von den Slawen namentlich von den in ihren Hoffnungen auf die Autonomie der Wenzelskrone betrogenen Tschechen. Diese bestritten in ihren Versammlungen und in ihrer Presse von Anfang an die Rechtsbeständigkeit des Reichsrats, und ihr fanatische Haß gegen alles Deutsche und gegen die deutsch gesinnte Regierung gab sich in pöbelhaften Exzessen, besonders bei einem Besuch des Ministers Herbst in Prag, kund. Als 22. Aug. 1868 der böhmische Landtag zusammentrat, erschienen die 81 tschechischen Abgeordneten nicht, sondern überreichten 23. Aug. eine "Deklaration" (daher wurden sie Deklaranten genannt), in welcher sie gegen die Kompetenz des Reichsrats, für Böhmen gültige Gesetze zu geben, protestierten und die Regelung des Verhältnisses der böhmischen Krone zum Reich durch einen Vertrag zwischen dem Kaiser und der böhmischen Nation verlangten. Auch die tschechischen Mitglieder des mährischen Landtags traten mit einer ähnlichen Erklärung aus, wie denn die Tschechen auch nicht im Reichsrat selbst vertreten waren. Als die deutsche Mehrheit des böhmischen Landtags hierauf das Belcredische Sprachenzwangsgesetz vom 18. Jan. 1866 aufhob, steigerten sich die Demonstrationen und Ausschreitungen derart, daß die Regierung den General v. Koller zum Zivil- und Militärgouverneur von Böhmen ernannte und 10. Okt. den Belagerungszustand über Prag und Umgebung verhängte. Ebenso wünschten die Polen eine völlige Autonomie Galiziens, und der galizische Landtag beschloß 24. Sept. 1868 eine Resolution, welche für Galizien einen besondern, dem Landtag verantwortlichen Minister, völlig unabhängige nationale Verwaltung und Gesetzgebung forderte. Ähnliche Wünsche regten sich bei den Slowenen, und in Tirol wollte man von der Verfassung aus klerikalen Beweggründen nichts wissen. Die Schwäche der österreichischen Staatsverwaltungsmaschine zeigte sich aber 1869, als in Dalmatien das 1869 beschlossene Landwehrgesetz durchgeführt werden sollte und die Bewohner der Krivosčie, die Bocchesen, sich gegen die Einordnung in die Landwehrtruppen und die Ablieferung ihrer Waffen empörten. Die österreichischen Truppen mußten sich nach Cattaro zurückziehen, und auch General Rodich, der mit der Herstellung der Ordnung beauftragt wurde, erreichte dieselbe nur scheinbar, indem im Frieden von Knezlac (11. Jan. 1870) die Aufständischen zwar die Waffen niederlegten, aber sie sofort wieder empfingen und das Landwehrgesetz thatsächlich nicht eingeführt wurde.

Diesen zentrifugalen Bestrebungen gegenüber erwiesen sich Ministerium und Reichsrat, obwohl sie formell alle Gewalt besaßen, nicht kräftig und entschlossen genug. Dies hatte seinen Grund auch darin, daß in der deutschen Mehrheit des Abgeordnetenhauses wie in der deutschen Bevölkerung die liberalen Grundsätze das Interesse für die Aufrechterhaltung der Staatseinheit überwogen. Der Widerstand der Regierung gegen die Aufhebung des Konkordats und die Einführung der obligatorischen Zivilehe, welche der Reichsrat noch 25. Jan. 1869 beschloß, verleitete die öffentliche Meinung wieder zum pessimistischen Mißtrauen. Im Ministerium selbst war keine Einigkeit mehr. Im Dezember 1869 kam es aus Anlaß des Antrags des niederösterreichischen Landtags, der Reichsrat möge künftig aus direkten Wahlen hervorgehen, um dadurch von den Landtagen unabhängig zu werden und eine größere Kraft zu gewinnen, zum Bruch. Die Mehrheit der Minister, Giskra, Herbst, Hasner, Plener und Brestel, war dafür, daß die Wahlreform sofort durchgeführt werde; die Minderheit, Taaffe, Potocki und Berger, wollten aber der Reform nur unter der Bedingung zustimmen, daß die Polen und Böhmen durch Zugeständnisse zu gunsten ihrer Autonomie versöhnt und zur Beschickung des Reichsrats bewogen würden. Beide Teile legten ihre Ansichten dem Kaiser in Denkschriften (18. und 24. Dez. 1869) dar, und da die Majorität des Herrenhauses sich für die Ansicht der fünf Minister aussprach, beschloß Franz Joseph, zunächst einen Versuch mit deren Programm zu machen. Taaffe, Potocki und Berger erhielten 15. Jan. 1870 ihre Entlassung, und Hasner trat an die Spitze des Ministeriums, das durch den Eintritt von Stremayr, Banhans und Wagner ergänzt wurde. Doch wurde die Lösung der Frage, welche zum Ministerwechsel den Anstoß gegeben, die Wahlreform, vertagt, weil man der Zweidrittelmajorität im Reichsrat nicht sicher war, weswegen Giskra 20. März seine Entlassung nahm, und das Ministerium beschloß 20. März, bloß ein Notwahlgesetz vorzulegen, nach welchem für den Fall der Nichtannahme oder Niederlegung von Reichsratsmandaten, oder wenn ein Landtag die Wahl für den Reichsrat verweigerte, direkte Reichsratswahlen stattfinden sollten. Da aber 29. März der Ausschuß des Abgeordnetenhauses sich zur Ablehnung der galizischen Resolution ermannt hatte, erklärten die Polen 31. März ihren Austritt aus dem Reichsrat, und ihnen folgten die föderalistischen Abgeordneten von Triest, Istrien, der Bukowina sowie die Slowenen, nachdem die klerikalen Tiroler schon im Januar ausgeschieden waren. Da der Reichsrat jetzt kaum noch beschlußfähig war, verlangten die Minister die Auflösung der Landtage, deren Mitglieder den Reichsrat verlassen hatten, und reichten, als