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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Parallaxe

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Parallaxe.

einschließen, also der Winkel, unter welchem die Strecke AB, von S aus gesehen, erscheint. Derselbe ist im allgemeinen um so kleiner, je weiter S von A und B entfernt ist. Bewegt man sich von dem Standpunkt A nach B, so dreht sich die Gesichtslinie AS um den Winkel ASB, und wenn hinter S in weiter Ferne ein Hintergrund liegt, so hat es den Anschein, als rückte S auf demselben fort, aber in einer Richtung, die der Bewegung des Beobachters entgegengesetzt ist. Diese scheinbare Bewegung des Objekts S ist um so stärker, je näher dasselbe liegt. Diese Wahrnehmung, die wir an irdischen Gegenständen täglich machen, wiederholt sich auch bei Beobachtung des Mondes und der uns näher liegenden Planeten: sie erscheinen an einer andern Stelle des scheinbaren Himmelsgewölbes, an einem andern scheinbaren Ort, je nach dem Punkte der Erdoberfläche, von dem aus die Beobachtung erfolgt. Infolgedessen werden auch Bedeckungen der Sterne und der Sonne durch den Mond (Sonnenfinsternisse) sowie Vorübergänge des Merkur und der Venus vor der Sonne von verschiedenen Beobachten zu verschiedener Zeit und in verschiedener Weise gesehen. In den astronomischen Tafeln gibt man aber die geozentrischen Orte der Himmelskörper an, d. h. die Orte, an denen sie bei der Beobachtung vom Erdmittelpunkt aus erscheinen würden. Um daraus die scheinbaren Orte der Gestirne für jeden Punkt der Erde abzuleiten, bedarf es der Kenntnis der P., d. h. des Winkels, unter welchem, vom Stern aus gesehen, der Erdhalbmesser erscheint. In Fig. 2 ist O der Erdmittelpunkt, der Kreis ein Meridian der Erde, AH der Horizont des Punktes A, OH' parallel zu AH; der Beobachtungspunkt B liegt so, daß der Stern S im Zenith erscheint, während ihn der Beobachter in A in der Höhe AS = h erblickt. Der Winkel ASO = p' ist dann die Höhenparallaxe des Sterns S. Erscheint im Punkt A der Stern S am Horizont, wie in Fig. 3, so ist der Winkel ASO = p die Horizontalparallaxe von S. Durch die P. wird die Höhe eines Sterns vermindert, denn erfolgte in Fig. 2 die Beobachtung des Sterns S von O aus, so daß OH' parallel OH der Horizont ist, so wäre H'OS = HAS + p' die Höhe von S. Wenn die P. bekannt ist, so findet man leicht die Entfernung OS = d des Sterns vom Erdmittelpunkt, ausgedrückt in Erdhalbmessern OA = r. Aus Fig. 2 folgt nämlich d = (r . cos h) / sin p', und aus Fig. 3 ergibt sich d = r / sin p. Wegen der Kleinheit von p' und p setzt man dafür d = (r . cos h) / p' = r / p, wo aber p und p' nicht in Gradmaß, sondern als Bogen, ausgedrückt in Teilen des Halbmessers, anzugeben sind (180° = 3,1415927; 1° = 1 / 57,296, 1' = 1 / 3437,75, 1'' = 1 / 206264,8). Aus der Vergleichung der beiden Ausdrücke für d folgt: p' = p . cos h, d. h. die Höhenparallaxe ist gleich der Horizontalparallaxe, multipliziert mit dem Kosinus der Höhe. Die erstere verschwindet also im Zenith (h = 90°), der scheinbare Ort fällt dann mit dem geozentrischen zusammen. Es wurde bereits erwähnt, daß die Parallaxen der Sterne sehr klein sind. Am größten ist die Horizontalparallaxe des Mondes; sie schwankt zwischen 54 und 61' und beträgt im Mittel 57,03, d. h. im Bogenmaß 57,03 / 3437,7 = 1 / 60,28, und die mittlere Entfernung des Mondes vom Erdmittelpunkt ist daher 60,28 Erdhalbmesser. Um die Horizontalparallaxe des Mondes zu finden, beobachtet man an zwei auf demselben Meridian gelegenen Punkten A und B der Erde (Fig. 4) die Kulminationshöhen h und h' des Mondmittelpunktes S; ist dann der Winkel AOB oder der Unterschied der geographischen Breiten von A u. B bekannt (= w), so ergibt sich der Winkel ASB oder p'' = h' - h - w, u. die Horizontalparallaxe von S ist: p = p'' / (cos h + cos h'). In gleicher Weise läßt sich auch die P. des Mars und der uns am nächsten kommenden Planetoiden zur Zeit der Opposition finden. Bei der Sonne aber kann man auf diese Weise die P. nicht finden, weil sie viel zu klein ist. Sie beträgt nämlich (nach Newcomb) 8,85'', d. h. in Bogenmaß 8,85 / 206264,8 = 1 / 23300, und die Entfernung der Erde von der Sonne beträgt daher 23,300 Erdhalbmesser. Über die Bestimmung dieser wichtigen Größe vgl. Sonne. Die bisher betrachtete P., die scheinbare Größe des Erdhalbmessers für einen Beobachter auf einem Stern, heißt auch die tägliche P. Für genaue Rechnungen ist noch die vorstehend vernachlässigte Abweichung der Erde von der Kugelform in Betracht zu ziehen. Vgl. Brünnow, Sphärische Astronomie, 3. Abschnitt (Leipz. 1862). Für die Fixsterne läßt sich ihrer ungeheuern Entfernung wegen eine tägliche P. nicht finden; wohl aber läßt sich erwarten, daß die uns zunächst liegenden Fixsterne eine scheinbare Ortsveränderung zeigen werden, wenn man sie von zwei einander diametral entgegengesetzten Punkten der Erdbahn, also in zwei um ½ Jahr voneinander abstehenden Zeitpunkten, beobachtet. Durch solche Beobachtungen hat man bei einer kleinen Anzahl von Fixsternen die jährliche P. gefunden, d. h. den Winkel ASO = p (Fig. 3), welchen zwei Gerade einschließen, von denen die eine vom Stern S nach der Sonne O, die andre nach einem Punkt A der Erdbahn gezogen ist, vorausgesetzt, daß der Radius OA senkrecht auf AS steht. Wenn die jährliche P. 1'', d. h. in Bogenmaß 1 / 206264,8, beträgt, so ist der Stern 206,264,8 Erdbahnhalbmesser od. Sonnenweiten (zu 148,670,000 km oder ungefähr 20 Mill. geogr. Meilen) von der Sonne entfernt; das Licht, welches nach Cornu in einer Sekunde 300,400 km zurücklegt, braucht für diese Entfernung nahezu 3¼ Jahre. Die größte Fixsternparallaxe, die des Sterns α Centauri, beträgt aber nur ungefähr 0,9''; auch dieser nächste Fixstern ist also noch weiter als die angegebene Strecke von uns entfernt (vgl. Fixsterne, S. 322). Die am sichersten bestimmten Fixsternparallaxen nebst den daraus abgeleiteten Abständen der betreffenden Sterne von der Sonne in Sonnenweiten und in Jahren Lichtzeit sind folgende:

^[Abb.: Fig. 2. bis 4. geometrische Figuren.]