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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Philosophie

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Philosophie (Einteilung; Geschichte: chinesische, indische P.).

selbe hat durch die Berührung dort mit dem "Himmel", hier mit der "Erde" frische Kräfte empfangen. Weder ihr zeitweiliges Unterliegen noch ihre Vielgestaltigkeit darf an der P. irre machen. Jenes geht aus ihrem Wesen, welches nicht fertiges Wissen, sondern Streben nach Wissen ist (die Wahrheit ist, nach Lessing, "für Gott allein"), diese geht aus der Vielgestaltigkeit des Wissens selbst hervor. Die (oben genannten) Gattungen der P. verhalten sich zu dieser wie die verschiedenen auf der Erde herrschenden Religionen zur Religion. Die (oben genannten) Stufen der P. stellen das Verhältnis der aufeinander folgenden Konfessionen derselben Religion, z. B. der christlichen, zu dieser dar. In diesem Sinn läßt sich sagen, daß, wenn auch keine der Philosophien die ganze P., das Ganze der Philosophien eine P. sei.

Die Einteilung der P. geht aus ihrem Begriff hervor. Da sie Universalwissenschaft ist, muß sie nicht nur alles "Gewußte" (Reales und Ideales), sondern das "Wissen" selbst umfassen. Da sie Normalwissenschaft ist, kann sie sowohl vom "Gewußten" (Realem wie Idealem) als vom Wissen nur normales, d. h. geläutertes, Wissen zulassen. Jenem zufolge zerfällt die P., wie die Wissenschaft überhaupt, in Wissenslehre (Noetik, Logik, Dialektik), Seinslehre (Ontologie, Physik), Ideallehre (Lehre vom praktischen Ideal: Ethik; Lehre vom künstlerischen Ideal: Ästhetik). Diesem zufolge umfaßt sie normale (nach ihrem eignen Wissensideal berichtigte) Wissens-, Seins- und Ideallehre. So ist z. B. die Seinslehre des reinen Rationalismus nur rational (Metaphysik), die des Positivismus nur sensual (empirische Physik); die Ideallehre des Rationalismus apriorisch (das Ideal aus der Vernunft), die des Empirismus aposteriorisch (das Ideal aus der Erfahrung geschöpft); der (theoretische) Nihilismus, der an der Erkennbarkeit des Seins verzweifelt, hat keine Seinslehre; der (ästhetische und praktische) Nihilismus, der an der Erkennbarkeit eines praktischen oder ästhetischen Ideals verzweifelt, hat keine Ideallehre; der logische Nihilismus, der überhaupt kein Wissen für möglich hält, hat auch keine Einteilung nötig. Im allgemeinen ist man übereingekommen, drei Wissenschaften, die rationale oder empirische (induktive) Wissenslehre, die rationale oder rationalisierte empirische Seinslehre und die rationale Ideallehre, als philosophische aufzuzeichnen und mit den hergebrachten Namen Logik, Metaphysik und (als Lehre vom sittlichen Ideal) Ethik (Sittenlehre, Moralphilosophie) oder (als Lehre vom Schönheitsideal) Ästhetik zu belegen (vgl. die betr. Artikel). Dagegen pflegt man denjenigen, welcher das praktische Ideal, statt aus der Vernunft, aus der Erfahrung schöpft, keinen Moralphilosophen, sondern einen Moralisten (s. d.) zu nennen; der Positivismus aber protestiert selbst dagegen, daß seine "Seinslehre" etwas andres als emrirische Physik sei. Nach obigem Sprachgebrauch werden auch die Unterabteilungen der Metaphysik (rationale und rational-empirische Theologie, Kosmologie und Psychologie) sowie die sich an die Ideallehre anschließenden Kunstlehren (Pädagogik, Politik als Anweisungen zur Realisierung des ethischen, Kunsttechnik als solche zur Verwirklichung des ästhetischen Ideals) philosophisch genannt. Dem Positivismus gelten jene ebensowenig als Wissenschaften wie die Metaphysik selbst.

Geschichte der Philosophie.

Von Geschichte der P. kann in dem Sinn, in welchem das Wort bei der Geschichte der exakten und induktiven Wissenschaften genommen wird, nicht die Rede sein. Dagegen stellen innerhalb der allgemeinen Entwickelungsgeschichte des Wissens die Gegensätze zwischen (unphilosophischer) Wissenschaft und P., innerhalb dieser selbst die Gegensätze zwischen Dogmatizismus und Skeptizismus Stufen dar, deren eine die andre voraussetzt, und die demzufolge einander in der Zeit ablösen. Den Anfängen der P. im Altertum wie jenen derselben in der neuern Zeit geht ein Zustand voraus, in welchem zwar Wissen, aber keine "Liebe zum Wissen" vorhanden war, sondern dasselbe im Dienst andrer Zwecke (politischer, religiöser, technischer) gepflegt wurde. Aus der Auflehnung gegen diese ist die P. entsprungen u. daher zu keiner Zeit mit günstigen Augen angesehen worden. Nachdem sie den Kampf mit den herrschenden Mächten des Altertums im Orient bei Chinesen und Indern, im Occident bei den Griechen aufgenommen und bis zum Ausgang des Römertums fortgesetzt hatte, suchte sie dem Unterliegen unter die herrschenden Mächte des Mittelalters im christlichen Abend- und islamitischen Morgenland dadurch zu entgehen, daß sie sich freiwillig zur "Magd" der Theologie erniedrigte. Das Wiederaufleben der positiven Wissenschaften sowie die Wiederentdeckung der echten Quellen der P. des Altertums führten nach Ausgang der kirchlichen Weltherrschaft zur Wiedererstarkung des Wissenstriebs, dessen Frucht die neuere P. ist.

Die P. der Chinesen ist als theoretische teils Sensualismus, teils Mystizismus, als praktische Rationalismus; in ihrem Begriff des Philosophen sind Denker und Weiser vereinigt. Das Wissen von den Dingen reicht nach den Lehren der herrschenden P. (der Schüler des Konfutse um 550 v. Chr.) nicht über deren sinnliche Erscheinung hinaus; nach denen der unterdrückten P. (der Schüler des Laotse um 600 v. Chr.) liegt der phänomenalen Welt ein "farb- und klangloses", sinnlich nicht wahrnehmbares Urwesen, Tao, zu Grunde. Als oberster Grundsatz der Moral gilt beiden die Einhaltung der richtigen Mitte. Die P. bei den Indern ist teils orthodoxe, sich an den Inhalt der heiligen Bücher (der Wedas) anschließende (streng genommen keine) P., wie in den beiden Systemen der Mimansa (Karma-Mimansa und Wedanta), teils heterodoxe, auf eignes Denken gestützte (also wirkliche) P., wie in den beiden Sankhyas des Kapila und Patandschali, in der Nyaya des Gautama und der Waiseschika des Kanada (sämtlich etwa zwischen 1000 und 600 v. Chr. entstanden). Beide Sankhyas berufen sich auf die Erfahrung als Quelle des Wissens: die erste auf die sinnliche (Sensualismus), die zweite auf die übersinnliche (Mystizismus). Durch jene kommt die Seele zur Einsicht, daß sie von der sinnlichen Natur verschieden, durch diese, daß sie mit der des übersinnlichen Urwesens (Brahma) eins und daher (im einen wie im andern Fall) von den am Sinnlichen haftenden Mängeln (Krankheit, Alter, Tod, Wiedergeburt) frei ist. Dasselbe (praktische) Ziel, die Glückseligkeit, wird der Nyaya zufolge durch die Vollkommenheit des (empirischen) Wissens erreicht, zu welchem Zweck eine Kunstlehre des Schließens und Streitens (Dialektik) entworfen wird. In dem System des Kanada werden die (physikalischen) Eigenschaften und Unterschiede der Dinge auf Gestalt, Zahl und Lage kleinster Körperteilchen (Atome) zurückgeführt, aus welchen dieselben zusammengesetzt sind. Verwandt mit der (ersten) Sankhya ist die Lehre des Buddhismus, welche als Ziel der P. die Erreichung des Nirwana als des (dem Nichtsein ähnlichen) Zustandes betrachtet, welcher jenem der Sansara (des Seins der sinn-^[folgende Seite]