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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Renntier

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Renntier.

Kirchengrenze zwischen Thüringen und Franken, die zum Teil noch heute nicht ganz vermischt ist. Der R., von mehreren Heerstraßen überschritten, ist 160 km lang und jetzt größtenteils fahrbar, stellenweise chaussiert. Vgl. Ziegler, Der R. des Thüringer Waldes (Dresd. 1862); Brückner, Neue Beiträge zur Geschichte deutschen Altertums, Heft 3 (Meining. 1867).

Renntier (Rangifer H. Sm.), Säugetiergattung aus der Ordnung der Paarzeher und der Familie der Hirsche (Cervina) mit der einzigen Art R. tarandus Sund. (s. Tafel "Hirsche"). Dies ist 2 m lang, über 1 m hoch, mit 13 cm langem Schwanz, im allgemeinen dem Hirsch ähnlich, aber viel weniger edel und schön. Der Leib ist am Hinterteil breiter, der Hals von Kopflänge, stark und zusammengedrückt, kaum aufwärts gebogen; der Kopf ist vorn wenig verschmälert, plumpschnäuzig; die Ohren sind kürzer als beim Edelhirsch, die Augen groß, die Thränengruben klein und von Haarbüscheln bedeckt. Beide Geschlechter tragen ein Geweih, welches von dem kurzen Rosenstock an bogenförmig von rück- nach vorwärts gekrümmt, an den Enden schaufelförmig ausgebreitet, fingerförmig eingeschnitten und schwach gefurcht ist. Die in eine breite Schaufel endenden Augensprosse liegen dicht auf der Nasenhaut, die Beine sind verhältnismäßig niedrig, die Hufe sehr breit, flach gedrückt und tief gespalten, und die Afterklauen reichen bis auf den Boden herab. Der Pelz ist sehr dicht, und am Vorderhals verlängert sich das Haar zu einer Mähne; im Frühjahr ist das ganze Tier einfarbig grau, aber allmählich wachsen andre weiße Haare hervor, und die Färbung ändert sich in schmutziges Weißgrau. Die Innenseite der Ohren und ein Haarbüschel an der Innenseite der Ferse ist weiß. Das zahme R., welches dem wilden gegenüber fast wie verkommen erscheint, ist im Sommer am Kopf, Rücken, Bauch und an den Füßen dunkelbraun, auf dem Rückgrat fast schwärzlich, an den Seiten des Leibes heller; der Hals ist viel lichter, die Unterseite weiß, die Stirn schwarzbraun, und die Kopfseiten sind weiß; im Winter tritt auch hier das weiße Haar gewöhnlich mehr hervor. Das R. bewohnt den hohen Norden der Alten und der Neuen Welt (das Karibou Nordamerikas, R. Caribou Aud., ist vom europäischen R. spezifisch nicht verschieden) von etwa 80° nördl. Br. südlich bis 60° in Norwegen, bis 56° im Gouvernement Twer, bis 49° in Sibirien, bis 46° auf Sachalin und bis 45° in Nordamerika. Auch auf Island, Spitzbergen und in Grönland findet es sich. Es bewohnt die baumlosen Fjelds Norwegens zwischen 800 und 1900 m und meidet hier ängstlich den Wald; im nördlichen Sibirien suchen große Herden im Winter Schutz in den Wäldern, wandern aber im Frühjahr auf die baumlosen Ebenen, wo sie bessere Nahrung finden. Das R. ist sehr gesellig und lebt meist in Rudeln von mehreren hundert Stück. Es geht und läuft ziemlich schnell, wird aber nie so flüchtig wie der Edelhirsch; es schwimmt sehr gut, wittert vortrefflich, hört und sieht auch sehr scharf und ist ungemein scheu und vorsichtig. Es nährt sich im Sommer von Alpenpflanzen, im Winter von Flechten; auch frißt es Knospen und Schößlinge der Zwergbirke. Das Geweih wird Ende Dezember oder im Januar abgeworfen. Die Brunstzeit fällt in den September, und Mitte April setzt das Alttier ein Junges. Das R. ist für die nordischen Völker von der höchsten Bedeutung und bildet gewissermaßen die Basis von deren Existenz. Schon das wilde R. wird von den Indianern in überraschender Weise ausgebeutet: aus den Geweihen und Knochen verfertigen sie Fischspeere und Angeln, die gespaltenen Schienbeinknochen dienen als Werkzeuge, mit dem Gehirn gerben sie das Fell, die ungegerbten Häute geben Bogensehnen und Netze, die Sehnen des Rückens werden zu Zwirn gespalten, die Felle der Kälber benutzt man zu Kleidern, das Fleisch, Blut, Knochenmark, selbst der Inhalt des Magens werden gegessen. Noch viel wichtiger ist das gezähmte R. für die europäischen Nordländer. Die Zähmung aber ist keineswegs so weit vorgeschritten wie die unsrer Haustiere, vielmehr leben auch die Nachkommen der seit vielen Generationen in der Gefangenschaft befindlichen Tiere noch immer in einem halbwilden Zustand. Lappen, Finnen und Sibirier treiben besonders die Renntierzucht, und die Korjaken sollen Herden von 40-50,000 Stück besitzen, während man die Zahl der Renntiere bei den norwegischen Lappen auf nur 79,000 Stück schätzt. Mancherlei Seuchen vermindern oft die Herden ganz bedeutend, viele Tiere erliegen dem rauhen Klima, und die Fruchtbarkeit erscheint vermindert. Im allgemeinen sind die in Herden gehaltenen Tiere klein und unansehnlich. Das Nomadenleben der Lappen akkommodiert sich vollständig den Gewohnheiten des Renntiers, das sich seine Nahrung selbst suchen muß. Im Juli und August leben die Tiere auf den Gebirgen und am Meeresstrand, und vom September an beginnt die Rückwanderung. Die Tiere genießen dann volle Freiheit, paaren sich oft mit wilden und werden erst beim ersten Schneefall wieder eingefangen, um vor den Wölfen geschützt zu werden. Auch im Frühjahr läßt man ihnen Freiheit, bis die Zeit kommt, wo die Kühe ihre Kälber setzen und Milch liefern. Dieses ganze Leben ist aber nur möglich durch die Hilfe der Hunde, ohne welche die Lappen die Herde niemals weiden könnten. Zum Melken muß das R. stets gefesselt werden; es liefert eine vortreffliche, angenehm süße und sehr fette Milch, aus welcher man kleine, etwas scharfe Käse bereitet. Im September wird geschichtet, und jeder Teil des Tiers wird verwertet. Außerdem dient das R. als Zugtier, bei den Tungusen und Korjaken werden stärkere Rennhirsche auch als Reittiere benutzt. Ein gutes R. legt mit dem Schlitten in einer Stunde 1,5 geogr. Meile zurück und zieht nahe an 150 kg, wird aber gewöhnlich nur mit der Hälfte belastet. Das R. würde auf unsern Hochgebirgen gedeihen und empfiehlt sich zur Einführung, da es keinen Schaden verursacht. In frühhistorischer Zeit hat es wahrscheinlich noch im Herodotischen Skythenland, den jetzigen russischen Gouvernements Wolhynien und Tschernigow, gelebt; ebenso war es wohl noch zu Cäsars Zeiten ein Bewohner der unermeßliches sumpfigen Wälder Germaniens. Im hohen Norden Schottlands scheint es sogar erst nach der Mitte des 12. Jahrh. unsrer Zeitrechnung ausgestorben oder ausgerottet zu sein.

Die fossilen Reste des Renntiers beweisen, daß es in vorhistorischer Zeit über den größten Teil Mitteleuropas verbreitet war, über ganz Großbritannien, Belgien, ganz Frankreich bis zu den Pyrenäen, Schweiz, Deutschland, das südliche Schweden, die russischen Ostseeprovinzen, Polen, den größten Teil des übrigen europäischen Rußland, namentlich die Gegenden an der Wolga, am Don, selbst in Bessarabien, ferner über das nördliche Ungarn, Mähren, Böhmen und das Erzherzogtum Österreich. Die ehemalige Südgrenze bilden also die Pyrenäen, die Alpen, Wien und das Tatragebirge. Es ist aber nicht anzunehmen, daß das R. in diesem weiten Gebiet gleichzeitig gelebt hat; vielmehr gehören die fossilen Reste verschie-^[folgende Seite]