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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Romanische Sprachen

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Romanische Sprachen.

im S. und W. Europas nicht aus der römischen Schriftsprache, sondern aus der römischen Volkssprache (lingua latina rustica) gebildet haben. Die römische Volkssprache hatte sich in den letzten Jahrhunderten des römischen Reichs mehr und mehr von der Sprache der Gebildeten entfernt und kennzeichnete sich besonders durch allerlei Eigenheiten in der Aussprache, durch Vernachlässigung oder gänzliches Aufgeben der Nominalflexion, Ersatz derselben durch Präpositionen, durch das Fallenlassen mehrerer flektierender Verbalformen und Neubildung derselben vermittelst Hilfszeitwörter, endlich durch den Gebrauch einer großen Anzahl ihr eigentümlicher Ausdrücke, anstatt der von der gebildeten Sprache angewandten (vgl. Schuchardt, Der Vokalismus des Vulgärlateins, Leipz. 1868, 3 Bde.). Hieraus erwuchsen allmählich unter Einwirkung der zurückgedrängten einheimischen Idiome in den verschiedenen Ländern die sechs romanischen Sprachen: die italienische, spanische, portugiesische, provençalische, französische und rumänische (walachische); doch ist die provençalische als Schriftsprache seit dem 15. Jahrh. erloschen und zu einer bloßen Mundart herabgesunken. In jeder dieser Sprachen lassen sich wieder mehr oder minder zahlreiche Dialekte unterscheiden. In ihrem Bau zeigen sich dieselben als natürliche Fortbildungen des Lateinischen; zu ihrem Wörterschatz aber haben auch andre Sprachen, so bei den fünf westlichen in besonders reichem Maß das Germanische, beim Rumänischen das Slawische, beigetragen; im Spanischen und Portugiesischen finden sich auch nicht unbedeutende arabische Bestandteile. Der Bildungsprozeß der romanischen Sprachen, der erst durch die geschichtlich-vergleichende Sprachforschung des 19. Jahrh. aufgehellt worden, fällt natürlich seinen ersten Anfängen nach in die Römerzeit. Erst im 8. Jahrh. geschieht ihrer als besonderer, vom gelehrten Latein verschiedener Sprachen mehrfach Erwähnung; um diese Zeit erscheint der Name Lingua romana zur Bezeichnung der Volkssprache im Gegensatz zur Lingua latina. Als Litteratursprachen treten sie in dem einen Land früher, in dem andern später auf, am frühsten das Französische und Provençalische, am spätesten das Italienische. Dem Gesamtcharakter nach ist unter allen romanischen Sprachen die italienische der lateinischen Mutter am nächsten geblieben, die französische hat sich von dieser am weitesten entfernt. Um die wissenschaftliche Erforschung der romanischen Sprachen bezüglich ihres Ursprungs und ihres Verhältnisses zum Lateinischen hat sich zuerst Raynouard (s. d.) durch seine "Grammaire comparée des langues de l'Europe latine" (Par. 1821), später L. Dieffenbach ("Über die jetzigen romanischen Schriftsprachen", Leipz. 1831) und der Engländer Lewis ("An essay on the origin and formation of the Romance languages", 2. Aufl., Oxf. 1862) Verdienste erworben. Epochemachend aber wurden erst Fr. Diez' "Grammatik der romanischen Sprachen" (5. Aufl., Bonn 1882; franz., Par. 1872-76, 3 Bde.) und dessen "Etymologisches Wörterbuch der romanischen Sprachen" (4. Aufl., besorgt von Scheler, Bonn 1878), durch welche beiden Werke das Studium dieser Sprachen zu einer wirklichen Wissenschaft, der romanischen Philologie, erhoben wurde. Verdienstlich auf diesem Gebiet sind noch die Arbeiten von Aug. Fuchs: "Über die unregelmäßigen Zeitwörter in den romanischen Sprachen" (Berl. 1840) und "Die romanischen Sprachen in ihrem Verhältnis zum Lateinischen" (Halle 1849). In neuester Zeit haben besonders Pott, Mussafia, Delius, Böhmer (Herausgeber der Zeitschrift "Romanische Studien", Straßb. 1871) u. a., in Frankreich Paul Meyer und Gaston Paris (die Herausgeber der Zeitschrift "Romania", seit 1873), die "Revue des langues romanes" (2. Serie, seit 1878) u. a., in Italien Biondelli, Monaci (Herausgeber des "Giornale di filologia romanza", seit 1878) u. a., ferner die "Zeitschrift für romanische Philologie" (hrsg. von Gröber, Halle, seit 1877) schätzbare Beiträge zur Geschichte und vergleichenden Grammatik dieser Sprachen geliefert. Vgl. P. Meyer, Rapport sur les progrès de la philologie romane (1874); Körting, Encyklopädie und Methodologie der romanischen Philologie (Heilbr. 1884, 2 Bde.; Zusatzheft 1888); Gröber u. a., Grundriß der romanischen Philologie (Straßb. 1886 ff.); Neumann, Die romanische Philologie (Leipz. 1886).

Im engern Sinn Romanisch (Rätoromanisch) heißt das romanische Patois, das in einem Teil der Ostschweiz, im Kanton Graubünden, geredet wird. Die Einheimischen nennen es Rumonsch (Rumansch), auch bezeichnet man es häufig als Churwelsch, d. h. das Welsch des Gebiets von Chur, der Hauptstadt Graubündens. Während es aber früher in ganz Graubünden herrschte, wird es jetzt nur noch im Engadin und im Quellgebiet des Rheins von etwa 40,000 Menschen gesprochen. Nach Ascoli ist das Rätoromanische als der westliche Ausläufer der sogen. ladinischen Dialekte anzusehen, die er in drei Gruppen einteilt: 1) östliche Gruppe im Gebiet von Friaul; 2) mittlere Gruppe, von Belluno ab, mit den Mundarten des Gebiets von Trient; 3) westliche Gruppe in Graubünden. Der geographische Zusammenhang zwischen den drei Gruppen ist heutzutage gestört, selbst die östlichen und westlichen Mundarten der Trientiner Gruppe hängen nicht mehr zusammen, während das ursprüngliche Sprachgebiet des Ladinischen, auf die alten römischen Ansiedelungen zurückgehend, vom Adriatischen Meer ohne Unterbrechung bis an den Oberrhein reichte. Die ladinischen Dialekte insgesamt umfassen nach Ascoli eine Bevölkerungsziffer von 580,000, wovon allein 450,000 auf Friaul kommen. Im linguistischen Sinn eine selbständige romanische Sprache ebenso gut wie Italienisch oder Französisch, werden sie doch nach dem Vorgang von Diez gewöhnlich den andern romanischen Sprachen nicht als ebenbürtig an die Seite gestellt, weil sie einer allgemeinen Schriftsprache entbehren. Was das Rätoromanische speziell betrifft, so zerfällt es in die beiden Hauptmundarten: Oberländisch oder Rumonsch im engern Sinn am Oberrhein und Ladin oder Engadinisch am Inn. Ersteres kann man wieder in die Unterdialekte Romanisch ob und unter dem Wald, letzteres in Ober- und Unterengadinisch einteilen; zwischen beiden Hauptmundarten steht das Oberhalbsteinische. Diese Dialekte differieren unter sich sehr bedeutend; als der reinste und richtigste gilt der unterengadinische, in dem sich auch eine feststehende Schriftsprache entwickelt hat. Der echt romanische Charakter all dieser Dialekte zeigt sich darin, daß 75-80 Proz. des Wortschatzes lateinischen Ursprungs sind; das übrige stammt aus dem Deutschen, Alträtischen etc. Die Aussprache ist im ganzen der italienischen sehr ähnlich. Die ältesten Drucke stammen aus dem 16. Jahrh. und sind religiösen Inhalts, wie auch die neuere rätoromanische Litteratur einen vorherrschend religiösen Charakter hat. Interessante Volkslieder (Straßb. 1874) und ein religiöses Drama aus dem 16. Jahrh.: "Die Geschichte von dem tapfern und frommen Tobias", sind neuerdings von A. v. Flugi nach alten