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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Russische Litteratur

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Russische Litteratur (Nationallitteratur bis zum 11. Jahrhundert).

also von dem Augenblick an, da Rußland in den Bund der europäischen Völker eintritt, im Auge. Als moderner Staat beruht Rußland nicht auf der Stände- und Korporationsverschiedenheit, sondern auf andern Elementen, über die hier ausführlich zu sprechen nicht am Platz wäre. Schon Katharina II. erkannte diese Thatsache, denn sie gedachte, was natürlich nie gelingen konnte, auf künstlichem Weg das Dasein von Ständen hervorzurufen. Die Wege des gesellschaftlichen und staatlichen Wachstums sind demnach in Rußland andre, und somit muß auch ein andres Verfahren beim Studium desselben angewandt werden. Rußland entbehrte sozialer und politischer Parteien in dem Sinn, in welchem wir sie in andern europäischen Staaten finden. In diesen ist der Kampf und das Wechselinteresse der Korporationen und Stände der Boden, auf welchem Gesellschaft und Staat, Litteratur und Recht, überhaupt der ganze ethische Bau, erwuchsen; die Bildung tritt sozusagen als letztes Wort der westeuropäischen Zivilisation auf, sie ist vor allem das Resultat sozialpolitischen Lebens. Umgekehrt ist es in Rußland: da fängt das eigentliche sozialpolitische Leben erst mit der Bildung an. Während in Europa die Parteien durch das ständische und korporative Interesse gebildet werden, sich gruppieren und ihre eignen Organe wählen oder gründen, sind es in Rußland die Presse und die Organe der Litteratur, welche neue Parteien ins Leben rufen und ihre Existenz bedingen. Die sozialpolitischen Parteien entstehen erst mit der hereinbrechenden Bildung, und lediglich durch die Einflüsse der Litteratur werden alle sozialen Bewegungen geleitet. Während in Europa jedes wirkende Individuum Repräsentant eines Standes oder einer Korporation war und durch sie oder ihre Rechte unterstützt wurde, vermochte in Rußland das Individuum immer nur als solches zu wirken, nicht als Repräsentant einer Gattung. Solche Leute gingen aber in der Geschichte Rußlands fast spurlos verloren, bis durch die vom Westen hereindringende Bildung neue Wirkungswege sich öffneten. In der Litteratur und nur durch diese konnten jetzt Gedankenumtausch und Einfluß sich geltend machen. Es ist demnach begreiflich, daß der Dichter und Litterat in Rußland von jeher so großen Einfluß ausübten, und daß nur wenige der bedeutenden Männer auf dem Gebiet der Litteratur in Rußland ungestört durch Verbannung und administrative Maßregelung ihre Tage beschließen konnten. Die größten Monarchen unterstützten ihre wichtigsten Reformen durch Litteraturerzeugnisse, die sie teils selbst verfaßten, teils von andern verfassen ließen; so Peter d. Gr. und Katharina II. Ersterer veranlaßte theatralische Aufführungen, in denen er die Feinde seiner Neuerungen persiflierte, und ließ den hochgebildeten Priester Teosan Prokopowitsch in Predigt und Schrift für dieselben eine Lanze brechen; Katharina gründete satirische Journale und schrieb selbst Theaterstücke und Abhandlungen, die aufgeführt und veröffentlicht wurden. In Rußland ist es somit das Niveau und die Richtung der Bildung, was die Menschen gruppiert und sozialpolitische Parteien bedingt. Man kann jahrelang in einem Kreis verkehren, ohne auch nur zu ahnen, ob dieses oder jenes Mitglied adligen oder andern Standes ist; man fragt nur, welcher Bildungsrichtung es angehört. Daher kommt es auch, daß in einem zu der großen Masse der ungebildeten verhältnismäßig so wenig zivilisierten Land wie Rußland eine so große Zahl von monatlichen Zeitschriften oder Revuen (ähnlich der "Revue des Deux Mondes" oder "Deutschen Rundschau") erscheint. Es sind dies Bücher von ca. 30 Druckbogen litterarisch-politischen Inhalts, als deren wichtigste (von den Zeitungen und Wochenschriften abgesehen) wir hier sofort nennen: "Westnik Jewropy" ("Europäischer Bote"), "Otetschestwennyja Sapiski" ("Vaterländische Annalen"), "Russkij Westnik" ("Russischer Bote"), "Russkaja Mysl" ("Russisches Geistesleben"), "Russkaja Rehtsch" ("Das russische Wort") etc. Um diese Journale gruppieren sich die eigentlichen sozialen Parteien. Da die Rechtsverhältnisse von jeher das praktische Wirken hemmten und der zivilisatorische Fortschritt nur auf dem Gebiet der Litteratur ausgefochten werden konnte, so hat allmählich selbst die schöne Litteratur eine sozial-ethische Bedeutung erlangt und zwar in dem Grade, daß eine rein ästhetische Behandlung der Litteraturgeschichte zu einer Unmöglichkeit geworden ist. Anderseits ist das Studium derselben sehr erschwert durch den Umstand, daß das Vorhandensein einer Zensur die Schriftsteller nötigt, so zu schreiben, daß man zwischen den Zeilen zu lesen gezwungen ist, was wiederum zu vielen Mißverständnissen verleitet oder einem Fernstehenden ganz unverständlich bleiben muß. Die Virtuosität in derartigem Schreiben und Lesen ist so groß, daß die Regierung sich oftmals veranlaßt fand, gegen Schriftsteller, deren Erzeugnisse die Zensur bereits passiert hatten, doch noch auf administrativem Weg einzuschreiten und sie für den verborgenen Sinn ihrer Schriften zu maßregeln.

Die Litteratur bis auf Peter d. Gr.

Über die ältere Volkslitteratur werden wir weiter unten sprechen, da die Epen und Lieder der alten, noch vortatarischen Zeiten Rußlands erst zu Anfang des 19. Jahrh. ernstlich gesammelt worden sind und zwar in verschiedenen Gegenden des Reichs, wo sie noch heutzutage, natürlich mit mannigfaltigen Verstümmelungen, in dem Munde des Volkes leben. Was die Kunstlitteratur anbetrifft, so ist diese von den Donauslawen nach Rußland hinübergekommen und zwar erst mit der Einführung des Christentums (988). Es war um 855, daß zwei griechische Mönche, Cyrillus und Methodius, es unternahmen, hauptsächlich aus den griechischen, dann auch wohl aus den hebräischen, armenischen und koptischen Schriftzeichen das slawische Alphabet zusammenzustellen (vgl. Krek, Einleitung der slawischen Litteraturgeschichte, Graz 1874). Mit dem Christentum kamen dann auch das Alphabet und Bücher kirchlichen Inhalts nach Rußland. Sie waren bulgarisch geschrieben, untermischt mit dem damals dem Bulgarischen sehr nahestehenden Südrussischen, und bildeten die Schriftsprache (Kirchenslawisch), welche bis heutzutage in den Kirchen gebraucht und von jedem, auch dem ungebildeten Russen wohl verstanden wird (s. Bulgarische Sprache). Das älteste Sprachdenkmal bildet das Evangelium von Ostromir (hrsg. mit Glossar von Wostokow). Die vorhandene Handschrift (aus dem Jahr 1056-57) wurde für den Präsidenten (Possadnik) der Republik Nowgorod angefertigt und ist nach Wochen und Tagen in Abschnitte geteilt, wie sie in den Kirchen gelesen werden. Sodann der "Isbornik von Swjatoslaw" (1073), die Bearbeitung eines Panegyrikus auf den bulgarischen Zaren Simeon. Durch die Vermittelung der Bulgaren erhielt Rußland eine Flut von geistlichen Legenden und weltlichen Sagen, welche oft aus Byzanz oder selbst aus dem Morgenland stammten, ein wunderliches Durcheinander von Apokryphen, Geschichte, Mythologie und heiligen Legenden. So spielten z. B. die Sagen von Alexander d. Gr. und dem Trojanischen Krieg darin ihre Rolle;