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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Russische Litteratur

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Russische Litteratur (Nationallitteratur vom 11. bis 18. Jahrhundert).

später ward manches direkt aus dem Griechischen in das Russische übertragen, und so findet man diese Litteratur in den verschiedenen Kodices bis ins 17. Jahrh. hinab; im Volk aber lebt manches bis heute noch. In der Mitte des 11. Jahrh. lebte auch Nestor, der Vater der russischen Geschichtschreibung, ein Kiewer Mönch, von dem die älteste Chronik Rußlands stammt (s. Nestor). Die Quellen dieser Chronik sind byzantinische Chronikschreiber, einzelne Sagen, Heiligengeschichten und Aussagen von Zeitgenossen. Ende des 11. Jahrh. entstand das Lied vom "Heereszug Igors gegen die Polowzer", das vielleicht von einem Zeitgenossen des Helden gedichtet wurde. Es enthält Spuren der Volksdichtung sowie der damals sehr einflußreichen bulgarischen Litteratur und ist ein Gelegenheitsgedicht vom größten poetischen Schwung (vgl. Igor). Um diese Zeit kamen die Tataren über Rußland und legten ihm ein schweres Joch auf, dessen Wucht von allen europäischen Ländern Rußland allein auf sich nehmen mußte und über drei Jahrhunderte ertrug. Kaum erhielten sich spärliche Reste der Kultur in den vom byzantinischen Einfluß beherrschten Klöstern, und auch nach der Befreiung von den Tataren erholte sich Rußland nur langsam unter der Leitung Moskaus. Aber es war nicht mehr das frühere Rußland der Kiewschen und Nowgorodschen Tage. Die despotische Herrschaft der asiatischen Völker hatte auch der moskauischen Zeit ihren Stempel aufgedrückt. Endlich, mit dem 16. Jahrh., bahnt sich neue Aufklärung langsam den Weg. Iwan IV. Wasiljewitsch (1534-84) ließ in den Städten Schulen anlegen und errichtete 1564 die erste russische Buchdruckerei in Moskau. Ein litterarisches Denkmal der Bildung und Zustände jener Zeit bildet der "Domostrói" (d. h. Das Buch von der Haushaltung), ein Kodex praktischer Lebensweisheit und bürgerlicher Moral, zusammengestellt und teilweise auch verfaßt von dem wohlwollenden Ratgeber des später grausamen Zaren Silvester (vgl. Brückner in der "Russischen Revue", Bd. 4). Das in der Kultur weiter vorgerückte Polen übte durch Kiew in litterarischer Beziehung Einfluß auf Rußland aus, wobei es freilich nicht fehlen konnte, daß nach der Vereinigung des Großfürstentums Litauen mit Polen im 16. Jahrh. das fremde Sprachelement mehr und mehr Eingang fand und der rein nationalen Entwickelung der Sprache und Litteratur im südwestlichen Rußland Eintrag that. Die Reformation in Deutschland fand in Polen einen Widerhall, wurde aber von den herbeigerufenen und sich in den Schulen festsetzenden Jesuiten verdrängt; durch diese wurden denn auch die Schulen im südwestlichen Rußland geleitet. Ihrem Einfluß erwuchs im 17. Jahrh. zuerst ein Feind in Petrus Mogilas (gest. 1688), einem merkwürdigen, vielgereisten, in Paris und an andern Universitäten gebildeten Mann, der dem in Kiew schon vorhandenen russischen Kollegium eine größere Bedeutung verlieh, Bildung und Wissenschaft hob und gelehrte Werke von geistlich-kirchlichem Inhalt sowie auch Gedichte nach polnischer Verskunst verfaßte. Petrus Mogilas und seinen Nachfolgern gelang es, sich bald vom Einfluß der Jesuiten zu befreien; es ward diesen untersagt, in den Schulen Südwestrußlands zu lehren. Mit der Befreiung Kleinrußlands (nebst der Hauptstadt Kiew) von der polnischen Herrschaft und seiner Anlehnung an Großrußland machte sich der Einfluß Kiewer Gelehrten erst recht fühlbar. Durch sie drang ein Hauch europäischer Wissenschaft nach Moskau, und noch Peter d. Gr. bediente sich ihrer, bevor er die Lehrkräfte direkt aus Europa erlangen konnte. Aus der Zahl der Kiewer Gelehrten, welche nach Großrußland kamen, sind namentlich Simeon Polozkij (gest. 1682) und der heil. Dmitrij Rostowskij (gest. 1709) zu erwähnen. Durch ihren Einfluß wurde 1679 in Moskau ein Kollegium ("slawonisch-griechisch-lateinische Akademie") gegründet; ja, unter dem Zaren Alexei Michailowitsch (Vater Peters d. Gr.) finden sich sogar Spuren von weltlichen Dramen, welche im Haus des aufgeklärten Bojaren Artemon Sergejewitsch Matwejew aufgeführt wurden. Ein großer Fortschritt war es, daß bei diesen Vorstellungen auch seine Frau und Pflegetochter Natalie Naryschkin (später Zarin und Mutter Peters d. Gr.) zugegen sein und sich mit den Gesandten oder Reisenden unterhalten durften. Dramen weltlichen Inhalts dichtete Feofan Prokopowitsch (1681-1736), der gewandte Schriftsteller und Ratgeber Peters d. Gr. (vgl. Tschistowitsch, F. Prokopowitsch und seine Zeit, in der "Sammlung von Aufsätzen der russischen Akademie etc.", 1868).

Das 18. Jahrhundert.

Mit Peter d. Gr. beginnt eine neue Periode der russischen Litteratur. Es ist bereits oben bemerkt worden, daß dieser Monarch Theaterstücke aufführen ließ und diese sowie andre litterarische Werke benutzte, um seine Reformen zu unterstützen. Der Zar hatte persönlich nicht wenig Einfluß auf die Schriftsprache, welche unter ihm sich von den Fesseln des Kirchenslawischen mehr und mehr befreite. Das gewaltsame Herausreißen Rußlands aus dem alten Geleise, das Ausbilden von neuen Kräften in Person junger Leute, welche im Ausland oder von Ausländern erzogen wurden, gab zu der merkwürdigen Erscheinung Veranlassung, daß die neue russische Litteraturperiode sofort mit der Satire, mit der Kritisierung der gegebenen Verhältnisse, begann, demnach eine negative und zugleich belehrende didaktische Richtung annahm, die ihr lange eigen blieb. Als erster Dichter der neuen Epoche wird der Fürst Antiochus Kantemir (1708-1744) genannt, Sohn des moldauischen Hospodars Demetrius Kantemir. Er war in Paris erzogen worden, und die dort erhaltene Bildung, welche ihm die gesellschaftlichen Verhältnisse in seiner Heimat wunderlich erscheinen ließ, machte aus ihm einen Satiriker. Sein Versmaß ist aber noch das polnische oder französische. Sein gelehrter Nachfolger Wasilij Trediakowskij (gest. 1769) wies bereits auf die Notwendigkeit für die russische Verskunst hin, sich an den Rhythmus des russischen Volksliedes zu halten; doch war er selbst zu talentlos, um durchzugreifen. Erst seinem vielseitig begabten Nebenbuhler Michael Lomonossow (1711-65) gelang es, eine durchgreifende Reform in der Sprache und namentlich im Versmaß vorzunehmen. Lomonossow ist als Schöpfer der russischen Metrik anzusehen. Während seiner Studentenjahre in Deutschland hatte er sich an den Oden Günthers herangebildet. Aus naturwüchsigem Geschlecht vom Weißen Meer stammend, ward er trotz der in Europa genossenen Bildung ein fanatischer Patriot und als Mitglied der Petersburger Akademie das Haupt der deutschfeindlichen Partei. Übrigens steht er als Gelehrter und Denker weit höher denn als Dichter. Lomonossows Zeitgenosse Alex. Sumarokow (1718-77), der erste russische Dichter, der kein Amt annahm, um bloß als Schriftsteller zu wirken, und sich voll Selbstbewußtsein für den russischen Voltaire hielt, schrieb bühnengerechte Tragödien nach französischen Mustern in Alexandrinern (die ersten ständigen russischen Theater wurden 1756 in Petersburg und 1759 in Moskau gegründet), versuchte