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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Sankt Gallen

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Sankt Gallen (Stadt).

10. Juni 1875) und wurde 30. Jan. 1862 durch die Bundesversammlung garantiert. Zufolge derselben ist der Kanton ein demokratischer Freistaat und Bundesglied der Schweizer Eidgenossenschaft. Sie enthält die in den Schweizer Kantonalverfassungen üblichen Grundrechte und teilt den Kanton in 15 Bezirke. Die Legislative und die Oberaufsicht der gesamten Landesverwaltung ist einem Großen Rat übertragen, der gemeindeweise auf drei Jahre gewählt wird, je ein Mitglied auf 1200 Seelen, aber so, daß jede Gemeinde wenigstens Ein Mitglied zu wählen hat. Die von ihm erlassenen Gesetze unterliegen der Volksabstimmung, sofern 6000 Bürger es verlangen. Die oberste Exekutivbehörde ist ein Regierungsrat von 7 Mitgliedern, welche vom Großen Rat auf eine Amtsdauer von drei Jahren gewählt werden; der Präsident führt den Titel Landammann. Die oberste richterliche Behörde ist ein ebenfalls vom Großen Rat, aber auf sechs Jahre gewähltes Kantongericht von 9 Mitgliedern. In den Bezirken bestehen je ein Bezirksammann (für die Exekutive) und ein Bezirksgericht, in den Gemeinden ein Gemeinderat, dessen Präsident den Titel Gemeindeammann führt, und ein Vermittler. Die Staatsrechnung von 1886 zeigt an Einnahmen 2,741,356 Frank, an Ausgaben 2,560,323 Fr., also einen Überschuß von 181,033 Fr. Unter den Einnahmen erscheinen als größter Posten die direkten Abgaben (1,082,913 Fr.), unter den Ausgaben das Bauwesen (740,443 Fr.), Erziehung (333,658 Fr.) und Militär (298,767 Fr.). Ende 1886 Aktiva: 30,304,824 Fr., Passiva: 23,045,473, also das Staatsvermögen: 7,259,351 Fr. Zu diesem unmittelbaren Staatsgut kommen noch 28 Separatfonds mit 7,978,219 Fr., so daß der gesamte Vermögensbestand sich auf 15,237,570 Fr. beläuft.

Die Hauptstadt Sankt Gallen,

an der Steinach, 676 m ü. M., am Eingang in die Bergregion gelegen, hat alpenartige Umgebung. Die ehemaligen Klostergebäude sind in Regierungslokale, Schulen, Wohnungen etc. umgewandelt. Zusammen mit der doppelt getürmten, gewaltigen Kathedrale (Stiftskirche, 1756 bis 1766 im italienischen Stil erbaut), dem Zeughaus, der Kinderkapelle etc. umstehen dieselben den umfangreichen viereckigen Klosterhof. Noch immer beherbergen sie die berühmte Stiftsbibliothek, welche 1500 Handschriften (darunter viele sehr alte und ausgezeichnete, zum Teil aus dem 6. Jahrhundert) nebst Münzsammlung und Inkunabeln enthält. In der Nähe des Klosters erhebt die geschmackvoll restaurierte reformierte Hauptkirche St. Laurenz (1851-53 restauriert) ihren schlanken gotischen Turm. Andre sehenswürdige Gebäude sind: das Rathaus, das Bürgerspital, das Kantonsspital, das Kantonsschulgebäude auf dem Brühl, das Museum mit naturhistorischen Sammlungen, den Sammlungen des Historischen Vereins und der Gemäldesammlung des Kunstvereins, die Strafanstalt St. Jakob, das Postgebäude bei dem Bahnhof. In der Nähe des letztern und selbst auf den steilen Anhöhen des engen Thals, in dem die Stadt liegt, haben sich neue Viertel erhoben. Die Zahl der Einwohner beträgt (1888) 27,910. S. hat sich nicht bloß zum Viktualienmarkt aufgeschwungen, wo Ober-Thurgau und Fürstenland ihre Bodenerzeugnisse zum Verkauf ausstellen und das Appenzeller Land einen Teil seines Bedarfs kauft; auch die umliegenden Industriebezirke bringen ihre Manufakturen dahin, damit die St. Galler Kaufleute den Export derselben übernehmen. St. Gallens Warenhandel ist ein ungemein ausgedehnter und vielseitiger. Die Artikel finden schon in den meisten europäischen Ländern großen Absatz; viel bedeutender jedoch ist der Export nach den außereuropäischen Erdteilen, besonders nach Amerika, auch nach Ostindien, für einzelne Branchen auch nach den mediterranen Häfen der Levante, als Alexandria, Smyrna, Beirut etc. Es arbeiten hier zwei Zettelbanken, die Bank in S. mit 4½ und die St. Gallische Kantonalbank mit 6 Mill. Frank eingezahltem Kapital, ferner die Deutsch-Schweizerische (3 Mill. Fr.) und die St. Gallische Kreditanstalt (1,6 Mill. Fr.). Lohnende Ausflüge führen auf den Freudenberg und andre umliegende Aussichtspunkte.

Geschichte der Stadt und des Kantons St. Gallen.

Die Stadt S. ist aus dem Kloster und dieses aus der Zelle des heil. Gallus hervorgegangen, der sich hier 614 als Einsiedler niederließ. Das Kloster, das 720 die Regel des heil. Benedikt erhielt, ward von Karl Martell zur Abtei erhoben. Ludwig der Fromme erklärte es für unabhängig vom Gaugrafen und Bischof, und mit Abt Gozbert (816-837), dem Gründer der berühmten Bibliothek, begann seine litterarische und künstlerische Blütezeit. Nach einem noch erhaltenen Bauriß von 830 zählte es 40 Firste, und durch den Sprachforscher Notker III., die als Dichter und Chronisten berühmten Ekkeharde, den Musiker Notker Labeo, den Bildschnitzer Tuotilo u. a. erhob sich die Klosterschule zu einer der ersten des Reichs. Gegen Ende des 11. Jahrh. verblich dieser litterarische Glanz; aber die Äbte von S. thaten sich durch kriegerischen Eifer für die Sache des Kaisers hervor, wofür sie 1206 zu Reichsfürsten erhoben wurden. Ihre Besitzungen reichten vom Züricher See bis Ulm; aber zwiespältige Abtswahlen und unglückliche Fehden mit König Rudolf von Habsburg brachen gegen Ende des Jahrhunderts ihre Macht. In diese Zeit fällt auch die Emanzipation der allmählich um das Kloster entstandenen, im 10. Jahrh. mit Mauern umgebenen und durch das Leinwandgewerbe blühenden Stadt S. von der geistlichen Herrschaft. Nachdem ihr Rudolf von Habsburg 1291 die Unveräußerlichkeit der Reichsvogtei zugestanden, beseitigte sie durch Einführung einer Zunftverfassung 1353 den Einfluß des Abtes auf die städtische Regierung fast gänzlich, erwarb 1415 mit dem Blutbann und Münzrecht die völlige Souveränität und wurde 13. Juni 1454 als zugewandter Ort in den ewigen Bund der Eidgenossen aufgenommen, unter deren Vermittelung sie sich 1457 durch Bezahlung von 7000 Gulden von allen Ansprüchen des Abtes für immer befreite. Inzwischen hatte sich auch der Abt 17. Aug. 1451 durch ein ewiges Schutzbündnis mit Zürich, Luzern, Schwyz und Glarus als zugewandtes Glied in die Eidgenossenschaft aufnehmen lassen. 1468 vermehrte sich der Besitz des Klosters durch die Erwerbung der Grafschaft Toggenburg. Ein Versuch des Abtes, seinen Sitz nach Rorschach zu verlegen, scheiterte an dem Widerstand der St. Galler und Appenzeller, welche den Neubau zerstörten; ein daran sich schließender Aufstand der Gotteshausleute wurde durch die vier Schirmorte der Abtei unterdrückt, die auch der Stadt S. und Appenzell schwere Kontributionen auferlegten (Rorschacher Klostersturm 1489-90). Die Reformation erlangte unter dem Einfluß des berühmten Humanisten Vadian (Joachim von Watt)

^[Abb.: Wappen von St. Gallen.]