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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Sardinische Monarchie

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Sardinische Monarchie (Geschichte 1849-1861).

Viktor Emanuel, der den edlen Patrioten Massimo d'Azeglio an die Spitze des Ministeriums berief, war entschlossen, sich der allgemeinen Reaktion nicht anzuschließen, sondern durch eine tüchtige Verwaltung und eine ehrlich liberale Politik die s. M. in stand zu setzen, ihre nationale Aufgabe in dem geeigneten Augenblick mit mehr Kraft und Aussicht auf Erfolg wieder aufzunehmen. Die Leidenschaft der Radikalen zu beschwichtigen, war aber schwierig und bedurfte einer energischen Haltung. Als die neugewählte, durchweg aus liberalen und zum Teil radikalen Elementen bestehende Deputiertenkammer den ihr Mitte November 1849 vorgeschlagenen Friedensvertrag anzunehmen Anstand nahm, löste eine königliche Proklamation vom 20. Nov. die Kammer auf. Aus den Neuwahlen ging eine gemäßigt liberale Nationalvertretung hervor, die nach Genehmigung des Mailänder Friedensvertrags (9. Jan. 1850) in Gemeinschaft mit dem Ministerium jene Reformepoche begann, welche die Aufmerksamkeit des Auslandes auf Piemont lenkte. Die ersten Gesetze, nach dem Justizminister Siccardi benannt, hoben die geistliche Gerichtsbarkeit auf und bestimmten die bürgerlichen Erfordernisse zur Gültigkeit eines Ehevertrags. Der Widerstand des Klerus gegen dieselben wurde durch die Verhaftung und Bestrafung des Erzbischofs Franzoni von Turin gebrochen. Der Eintritt Cavours in das Ministerium, worin er Ackerbau und Handel übernahm, 11. Okt. 1850 gab der Reformthätigkeit der Regierung einen neuen Aufschwung. Trotz des Widerstandes der Adelsklasse und des Klerus wurden die Fideikommisse, die Majorate, die Erstgeburtsrechte, die Banalgerechtigkeiten, die geistlichen Zehnten (auf Sardinien) etc. aufgehoben. Viel wurde für den öffentlichen Unterricht gethan, auch große Sorgfalt auf Brücken-, Straßen- und Eisenbahnbauten verwandt. Das Zollwesen wurde in freihändlerischem Sinn umgestaltet und durch freisinnige Handelsverträge mit den meisten Staaten Europas Handel und Verkehr gehoben. Die Kriegsschuld an Österreich wurde abbezahlt und die Finanzen geordnet. Mit kräftiger Hand und militärischer Entschlossenheit leitete Lamarmora die Reorganisation und Disziplinierung des Heers.

Die Lage des Staats in Europa war schwierig, da er rings von feindlich gesinnten Nachbarn umgeben war und die klerikale Partei, durch das Zivilehegesetz von 1852 von neuem gereizt, alles aufbot, um einen Umschwung herbeizuführen. Die Bischöfe schleuderten Proteste und Exkommunikationen gegen die Anhänger der Zivilehe, die der Papst 19. Sept. für ein Konkubinat erklärte. Frankreich und Österreich mischten sich in diese Krisis zu gunsten der Geistlichkeit ein. Doch der König und die weit überwiegende Mehrheit der Nation blieben einig und fest, und die innere Politik wurde noch entschieden freisinniger, als nach dem Rücktritt d'Azeglios 4. Nov. 1852 Cavour den Vorsitz im Ministerium und die Finanzen übernahm. Nun wurden 1854 die Klöster aufgehoben und die staatliche Gewalt ganz von der kirchlichen befreit. In der auswärtigen Politik hatte sich Sardinien seit dem Frieden vorsichtig verhalten und an England eine Stütze gesucht, dessen Vermittelung es auch anrief, als Österreich 1853 die Güter der seit 1849 nach Sardinien übergesiedelten Lombarden mit Sequestration belegte. Da die Vermittelung erfolglos blieb, wurde der diplomatische Verkehr mit Österreich auf einige Zeit abgebrochen. Als nun 1853 der Bund der Westmächte, England und Frankreich, gegen Rußland zu stande kam, erkannte Cavour den Vorteil eines engen Anschlusses an diese, und in dem Bündnis mit England und Frankreich vom 26. Jan. 1855 verpflichtete sich der König von Sardinien, im Krimkrieg ein Hilfskorps von 15,000 Mann zu stellen, wogegen die britische Regierung der sardinischen ein 4proz. Darlehen von 1 Mill. Pfd. Sterl. gewährte. So wurden im April 1855 die sardinischen Truppen auf Kosten Englands nach der Krim übergeführt und dort in einer Stärke von 17,000 bis 18,000 Mann bis zum Frühjahr 1856 erhalten.

Dies Bündnis gab der auswärtigen Politik Sardiniens, welche Cavour seit 10. Jan. 1855 leitete, einen neuen Aufschwung und ermutigte es, im Rate der Mächte wieder im Namen Italiens aufzutreten. Es gewann dafür den wohlwollenden Schutz Frankreichs und Englands, welche Mächte Österreich durch seine schwankende Haltung im Krimkrieg sich entfremdet hatte, und eine Reise Viktor Emanuels nach Paris und London (November 1855) gab dies der Welt deutlich zu erkennen. Auf den Friedenskonferenzen zu Paris (vom 25. Febr. bis 16. April 1856) war Sardinien durch Cavour selbst vertreten, der die Mächte auf die Übelstände in Italien und die schwierige Lage, in welche Sardinien durch den Druck Österreichs einer- und den revolutionären Geist anderseits gebracht werde, aufmerksam machte und die wohlwollende Zustimmung Englands, Frankreichs und Rußlands zu seinen Wünschen erlangte. Die nationale Bewegung in Italien begann infolgedessen von neuem, und Sardinien bereitete sich vor, an ihre Spitze zu treten. Der Notenwechsel mit Österreich wurde immer schärfer und führte im März 1857 zur Abberufung der Geschäftsträger. 1857 wurde Alessandria mit beträchtlichem Kostenaufwand stärker befestigt. Zugleich versicherte sich Cavour der Gunst Rußlands, dem er einiges Land bei Villafranca in der Nähe von Nizza für eine Kohlenstation abtrat. Die geheimen Verhandlungen mit Napoleon wurden fortgesetzt und bei einem Besuch Cavours in Plombières zum Abschluß gebracht. Die bekannte Anrede Napoleons III. an den österreichischen Gesandten 1. Jan. 1859 gab das Signal zur offenen Erhebung Sardiniens. Über den Ausbruch und Verlauf des Kriegs zwischen Österreich einer- und dem mit Frankreich verbundenen Sardinien anderseits, wodurch dies die Lombardei gewann, sowie die Begründung des Königreichs Italien durch Viktor Emanuel s. Italien, Geschichte, S. 79-81. Mit der Annahme des Gesetzentwurfs vom 21. Febr. 1861 über die Proklamation Viktor Emanuels als Königs von Italien hörte Sardinien, das seit 1859 thatsächlich schon an der Spitze Italiens gestanden, formell als besonderes Königreich zu bestehen auf. Vgl. Manno, Storia della Sardegna (Tur. 1825, 3 Bde.); Mimaut, Histoire de Sardaigne (Par. 1825); Brofferio, Storia di Piemonte (Tur. 1849-52, 5 Bde.); Cibrario, Storia della monarchia di Savoia (das. 1840-47, 3 Bde.); Cesare di Saluzzo, Histoire militaire de Piémont (das. 1818; 2. Aufl. 1859-61, 5 Bde.); Ricotti, Storia della monarchia piemontese (Flor. 1861-69, 6 Bde.); Bianchi, Storia della monarchia piemontese, 1773-1861 (Tur. 1877-84, Bd. 1-4); "Relazioni diplomatische della monarchia di Savoia 1554-1814" (das. 1888 ff.); Bericht des österreichischen Generalstabs über den Feldzug von 1848 (Wien 1850, 2 Bde.); Bazancourt, La campagne d'Italie de 1859 (3. Aufl., Par. 1862, 2 Bde.; deutsch, Leipz. 1860); Manno und Promis, Bibliografia storica degli stati della monarchia di Savoia (Turin 1884 ff.).