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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Schulwesen

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Schulwesen (Bestrebungen der Gegenwart).

Stufe des gesamten Schulwesens stehen endlich die Hochschulen, unter denen die der Wissenschaft, die Universitäten, durch Alter, Ansehen, Zahl und Umfang hervorragen, obwohl ihnen rechtlich die technischen Hochschulen und die verschiedenen Akademien für die Kunst wie für einzelne Zweige des höhern technischen Staatsdienstes (Forst-, Bergakademie etc.) gleichstehen. Neben diesem bürgerlichen Schulwesen steht ein reichgegliedertes militärisches Unterrichtswesen, das von den Militärwaisenhäusern und Unteroffizierschulen durch die den Realgymnasien entsprechenden Kadettenhäuser bis zu der Kriegs- und Marineakademie hinauf alle Stufen ebenfalls eigenartig entwickelt hat. Für die Bildung des Lehrerstandes an allen diesen Schulen sorgen, soweit nicht die besondern Fachlehrer einzelner Berufsschulen in Frage stehen, auf den niedern Stufen die Seminare für Volksschullehrer und Lehrerinnen, denen in Preußen besondere Präparandenschulen vorarbeiten, auf den höhern Stufen die Universitäten und teilweise die technischen Hochschulen. S. die betreffenden Einzelartikel.

Diese große Mannigfaltigkeit von Schulen, die das moderne Leben allmählich herangebildet hat, und zu der noch manche Nebenformen, wie die Taubstummen-, Blinden-, Idiotenanstalten und -Schulen, für besondere, regelwidrige Fälle kommen, ist ohne Zweifel ein auszeichnendes Merkmal des Jahrhunderts; und daß Deutschland, namentlich Preußen, darin allen Ländern der gebildeten Welt vorangeschritten, steht unverkennbar mit den politischen Erfolgen des deutschen Volkes während des letzten Menschenalters in ursachlicher Wechselwirkung. Doch hat anderseits die große Verschiedenheit der Schulen und Schularten auch ihr unbequemes und unter Umständen selbst ihr Bedenkliches, indem der vorhandene Reichtum der Formen eine einheitliche Leitung des Schulwesens und den beteiligten Kreisen des Volkes die Übersicht und Auswahl der richtigen Schulen für ihre Kinder sehr erschwert. Diese Schwierigkeit für die Eltern macht sich namentlich fühlbar auf der mittlern Stufe der sogen. höhern Schulen, bei denen die sehr verschieden bemessenen Berechtigungen für den bürgerlichen wie militärischen Staatsdienst erheblich ins Gewicht fallen, und an denen im Verlauf der Geschichte sich die beiden verschiedenen Grundrichtungen des Humanismus und des Realismus herausgebildet haben, von denen jener Sprach- und Schrifttum der alten Römer und Griechen, dieser dagegen neben den neuern Sprachen die mathematisch-naturwissenschaftliche Bildung der neuen Zeit in den Mittelpunkt des Unterrichts zu stellen bestrebt ist. Jener Übelstand (der erschwerte Überblick über das Ganze des Schulwesens) dagegen hat eine bisweilen bis zu unnatürlicher Entfremdung gehende Scheidung des niedern vom höhern Schulwesen zur Folge gehabt. Obwohl nun eine unbefangene Kritik anerkennen muß, daß diese Bedenken durch die zu keiner frühern Zeit auch nur annähernd erreichte Blüte des Unterrichtswesens unserer Tage mehr als aufgewogen werden, und daß die neuere und neueste Entwickelung des Schulwesens in diesen Hinsichten eher zur guten Zuversicht als zu vermehrter Besorgnis auffordert, so ist doch eine gewisse Beunruhigung in der einen wie in der andern Richtung unverkennbar vorhanden. Innerhalb des höhern Schulwesens macht diese sich geltend in der seit Jahrzehnten geschäftigen Agitation zu gunsten der Realschulen, für die man, sei es in der reinen Form der lateinlosen Oberrealschule, sei es in der Kompromißform des Realgymnasiums, volle Gleichberechtigung mit dem Gymnasium auch hinsichtlich des Universitätsstudiums beansprucht, und von der andern Seite in dem Streben des deutschen Einheitsschulvereins, der über das Ziel der höhern Bürgerschule hinaus nur eine Grundform der höhern Schule und zwar das alte Humangymnasium mit einem der modernen und realistischen Seite etwas angenäherten Lehrplan zugelassen zu sehen wünscht. Man hat kaum zu erwarten, daß dieser Einheitsschule zuliebe die vorhandenen Anstalten von ihren Anhängern und von den Regierungen geopfert werden. Eher wird den Schülern der Realanstalten erweiterte Berechtigung an den Universitäten sich eröffnen, wenn einmal für das ärztliche, vielleicht auch das juristische Studium statt des jetzt (ohne die Realgymnasiasten!) vorhandenen Überflusses Mangel an Zufluß eintritt. Inzwischen ist der bestehende Zustand keineswegs so mangelhaft, daß die Beunruhigung des Publikums durch den steten, von verschiedenen Standpunkten aus erhobenen Ruf nach Revisionen und Reformen gerechtfertigt wäre. - Die Spannung, welche namentlich in den letzten Menschenaltern vor 1870 zwischen gelehrtem und Volksschulwesen eingetreten war, hat vielfach in den Kreisen der Volksschullehrer den alten Ruf nach einer allgemeinen deutschen Einheitsschule wieder erweckt, die auf der gemeinsamen Grundlage der Elementarschule (vier Jahre) sich zunächst in höhere Schule und Volksschule teilen soll, von denen jene wieder nach zwei Jahren einen humanistischen und einen realistischen Zweig bilden würde, wie diese noch eine Bürgerschule mit einer fremden Sprache und etwas verlängerter Schulzeit als Nebenform absonderte. Obwohl diese Theorie sich auf ein ehrwürdiges Alter und vornehme Ahnen, wie Comenius, berufen kann, entfernt sie sich doch so weit von den Gewohnheiten der Gegenwart und nimmt so wenig Rücksicht auf die unendlich verschiedenen örtlichen Voraussetzungen des Schulwesens, daß sie vorderhand noch keine Aussicht auf irgend welche praktische Erfolge hat. Der berechtigte Anspruch liegt ihr aber unleugbar zu Grunde, daß es eine Gefährdung des nationalen Lebens bedeutet, wenn höheres und niederes Schulwesen unabhängig voneinander, ja in auseinander strebenden Bahnen sich bewegen, statt daß die Erziehung der Jugend als eine große nationale Angelegenheit von einheitlichen Gesichtspunkten aus geleitet werde; und dieses Bedenken ins Gedächtnis zu rufen, liegt aller Anlaß vor, wo, wie in Preußen, die beiden Gebiete des Schulwesens bis zur Person des Ministers hinauf fast völlig getrennten Behörden zur Pflege anvertraut sind.

Beschränken sich diese Verhandlungen fast ganz auf den innern Kreis der Lehrer und Schulfreunde, so ist anderseits seit dem Erwachen des modernen Staatsgedankens die Schule auch ein bevorzugter Gegenstand des politischen Interesses geworden. Diese Wendung läßt sich zurückverfolgen bis in die Reformationszeit, wo in den protestantischen Gebieten beim Sturz der kirchlichen Hierarchie an die weltliche Obrigkeit die Nötigung herantrat, für das Unterrichtswesen selbst Sorge zu tragen. Die Fürsorge für das S. wurde den deutschen Fürsten doppelt nahegelegt durch das Elend, welches der Dreißigjährige Krieg über die vordem blühenden Länder gebracht hatte, und wirklich hat in jener Zeit eine ganze Reihe deutscher Landesfürsten sich nach dieser Richtung hin hohe Verdienste erworben. Immer konnte aber bei der eigentümlichen Gestaltung der landeskirchlichen Verhältnisse noch zweifelhaft sein, ob sie in dieser Hinsicht unmittelbar als Landesfürsten