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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Schulwesen

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Schulwesen (geschichtliche Entwickelung, gegenwärtiger Stand).

weckte. Über beiden als Krönung des Gebäudes erhoben sich seit dem 12. und 13. Jahrh., zumeist nach dem Muster der Universität Paris, die "hohen Schulen" oder Universitäten. Im 15. Jahrh. wurde in Deutschland, den Niederlanden etc. die Gründung von Schulen besonders von den Hieronymianern oder Brüdern des gemeinsamen Lebens betrieben. Einen wesentlichen Aufschwung brachten demnächst nach fast allgemeinem tiefen Verfall Humanismus und Reformation, während der Jesuitenorden in seinen Kollegien, die auch bei andern Orden Nachahmung fanden, eine neue Art der Klosterschulen schuf. Erst seit der Reformation und mehr noch seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrh. wurde auch die Volksschule, zunächst in den protestantischen Gebieten Deutschlands und demnächst auch im katholischen Teil, unter vorwiegender Mitwirkung der Geistlichkeit beider Bekenntnisse in weitern Kreisen zur Durchführung gebracht. Zu den beiden Arten von Schulen, höhern und niedern, lateinischen und deutschen, kamen in der neuern Zeit, namentlich während des "pädagogischen" 18. und des 19. Jahrh., allmählich Realschulen, Lehrerseminare, Töchterschulen, Handelsschulen, Handelsakademien, Gewerbeschulen und technische Hochschulen, Landwirtschaftsschulen, landwirtschaftliche Akademien, Navigationsschulen, Kadetten- und Kriegsschulen etc. Ihrethalben muß auf die einzelnen Artikel verwiesen werden, ebenso wegen der wechselnden Theorien, welche auf das S. Einfluß gewannen, auf den Artikel Pädagogik.

Gegenüber den gelehrten Schulen wurde in den höhern Gesellschaftskreisen durch den Einfluß von Montaigne, Locke, Leibniz, Rousseau u. a. in den letzten Jahrhunderten oft die Einzelerziehung durch Hofmeister und Hauslehrer bevorzugt. Allein die letztere wird es, von einzelnen günstigen Ausnahmen abgesehen, mit einer geordneten Schulerziehung in ihren Leistungen nie aufnehmen können. Auch mußte sie in unserm Jahrhundert sehr zurücktreten, seitdem, zuerst in Preußen und dann nach preußischem Muster in vielen andern Staaten Europas, eine Reihe wichtiger Berechtigungen im Staats- und Kriegsdienst an den erfolgreichen Besuch gewisser staatlicher oder wenigstens staatlich anerkannter und beaufsichtigter Schulen geknüpft wurde. Neben dieser äußern Nötigung hat aber dazu auch die in der modernen Entwickelung des Nationalgefühls und des öffentlichen Lebens wurzelnde Überzeugung mitgewirkt, daß besonders Knaben schon früh lernen müssen und am besten in öffentlichen Schulen lernen können, sich als dienende Glieder in ein größeres Ganze einzufügen, eine Überzeugung, welche neuerdings sogar einsichtige Fürsten, wie z. B. den deutschen Kaiser Friedrich III. als Kronprinzen, bewogen hat, ihre Söhne bewährten öffentlichen Schulanstalten mindestens für einige Zeit anzuvertrauen. Hierin liegt auch zugleich der Grundsatz angedeutet, welcher die Schulzucht oder Schuldisziplin nach der Anschauung der neuern Pädagogik zu leiten hat, indem man von der Schule verlangt, daß sie durch den überwältigenden Eindruck einer sachlich begründeten und besonnen durchgeführten Ordnung den Schüler innerlich zum gesetzmäßigen Verhalten bestimmen, nur im Notfall aber zu äußern Strafen und namentlich zu mäßigen körperlichen Züchtigungen schreiten soll.

Gegenwärtiger Stand des Schulwesens.

Nach der gegenwärtigen Gestalt des deutschen und namentlich des preußischen Schulwesens hat dasselbe folgende Gliederung angenommen. Die allgemeine Grundlage bildet die Volksschule (Elementarschule), in welcher auf dem Land meist die Kinder beiderlei Geschlechts vereinigt, in größern Orten Knaben und Mädchen gesondert in der christlichen Religion, der Muttersprache (Lesen, Schreiben), im Rechnen, in den Elementen der Raumlehre, den wichtigsten Realien (Geschichte, Geographie, Naturkunde), Zeichnen, Singen, Turnen und weiblichen Handarbeiten unterrichtet werden. Die Volksschule müssen alle Kinder vom 6.-14. Jahr besuchen, wenn sie nicht anderweit mindestens dem entsprechend unterrichtet werden. An die Volksschule schließt sich die Fortbildungsschule, in mannigfachen Formen ausgebildet und vielfach dem bürgerlichen Beruf der Zöglinge angepaßt, als landwirtschaftliche Fortbildungsschule auf dem Land, als Lehrlings- oder Gewerbe- u. Fachschule in Städten. In einer Anzahl deutscher Staaten (Sachsen, Königreich und Herzogtümer, Bayern, Württemberg, Baden, Hessen) erstreckt die gesetzliche Schulpflicht sich auch auf diese ergänzende Fortsetzung der Volksschule. Neben der Volksschule, nur hier und da in größern Städten mit derselben verschmolzen, steht die Mittelschule, welche mindestens fünf aufsteigende Klassen und demgemäß erweiterte Lehrziele in den Fächern der Volksschule hat, auch daneben den Unterricht in mindestens einer fremden Sprache aufnimmt. Übrigens ist der Name Mittelschule nicht überall für die Anstalten dieser Stufe im Gebrauch; vielmehr werden sie auch als Bürgerschulen, Stadtschulen, Rektorschulen etc. bezeichnet. Die höhern Schulen (in Österreich und Süddeutschland: Mittelschulen), sofern sie ein allgemeines Bildungsziel verfolgen, stehen diesen beiden erstern Formen fast ganz selbständig gegenüber, indem sie zwar die Aufnahme von Schülern aus ihnen keineswegs ausschließen, aber vielfach durch eigne Vorschulen dafür sorgen, daß wenigstens der Hauptsache nach ihre Schüler von früh an gesonderten Unterricht empfangen. Sie zerfallen nach dem Geschlecht der Schüler in höhere Töchter- oder Mädchenschulen und höhere Schulen für das männliche Geschlecht. Lehrplan und Bildungsziele der erstern, welche sich am spätesten entwickelt haben, sind noch recht verschiedenen Auffassungen unterworfen; unverkennbar ist indes das höhere Mädchenschulwesen in erfreulichem innern wie äußern Aufschwung begriffen. Die höhern Knabenschulen, um sie kurz so zu bezeichnen, sind nach den geltenden preußischen Lehrplänen vom 31. März 1882 Gymnasien (Lyceen, Ritterakademien, Pädagogien), Realgymnasien und Oberrealschulen, je nachdem sie Griechisch-Lateinisch-Französisch, Lateinisch-Französisch-Englisch oder nur Französisch-Englisch lehren. Diese vollständigen höhern Lehranstalten haben neunjährigen Lehrgang, in dem nach den sechs ersten Jahren das Recht zum einjährig-freiwilligen Heerdienst erlangt wird. Als unvollständige Anstalten mit siebenjähriger Lehrdauer entsprechen ihnen die Progymnasien, Realprogymnasien und Realschulen, als unvollständige Anstalt mit sechsjähriger Dauer entspricht der Oberreal- und Realschule die höhere Bürgerschule, die demnach mit Erlangung des Freiwilligenrechts abschließt. Von der höhern Bürgerschule weichen die Landwirtschafts- u. Handelsschulen fast nur in dem Vorzug ab, der in ihrem Lehrplan den für das spätere Berufsleben der Zöglinge wichtigen Unterrichtszweigen eingeräumt ist. Die höhern Gewerbe- oder Fachschulen sowie die Kunst- und Kunstgewerbeschulen dagegen setzen meist den Besuch einer der vorgenannten Anstalten, wenigstens in ihren untern Stufen, schon voraus. Über diesen allen als höchste