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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Schwurgericht

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Schwurgericht (in England, Frankreich, Deutschland).

dung. Der Ankläger hatte sich regelmäßig zum Kampfbeweis zu erbieten. Bei Kampfunfähigen trat an Stelle des gerichtlichen Zweikampfes das Gottesurteil. Allmählich erlangten aber in der Normandie und in England Angeklagte durch königliche Gnadenbriefe das Recht, sich auf eine Beweisjury zu berufen, um ihre Unschuld darzuthun. Eine naturgemäße Verbindung mit dem Rügegericht ergab sich dabei ohne Schwierigkeit, indem man das, was anfangs eine königliche Gnadensache für den einzelnen Fall war, auch den Gerügten zugestand. Wichtig war, daß nach dem Grundbrief der englischen Verfassung, nach der Magna Charta von 1215 (Art. 36), sich jeder Beklagte auf eine Jury berufen kann. Nachdem dann wenige Jahre später (1219) die Gottesurteile in England reichsgesetzlich verboten worden waren, und nachdem der gerichtliche Zweikampf nach und nach abgekommen, blieb überhaupt kein andres Beweismittel außer der Jury übrig. Diese Urteilsjury besteht jetzt aus 12, in Schottland aus 15 Mitgliedern.

Aus diesem Entwickelungsgang der englischen Schwurgerichte erklären sich folgende Eigentümlichkeiten: 1) Der Ausspruch der Geschwornen heißt Verdikt oder Wahrspruch, weil die Jury in dem Stadium der alten Beweisführung dahin vereidigt wurde, nach ihrem Gewissen die Wahrheit zu sagen, was offenbar nur für die Bezeugung von Thatsachen passend war) 2) Die in England konsequent eingetretene Scheidung der Thatfrage (d. h. Beweisfrage) von der Rechtsfrage (d. h. Urteilsfrage). Über die Thatfrage allein urteilen die Geschwornen, über die Rechtslage der königliche Richter, dessen Rechtsbelehrung für die Geschwornen noch heutzutage bindend ist. 3) Das in England bis jetzt festgehaltene Erfordernis der Stimmeneinhelligkeit der Geschwornen für ihre Verdikte, denn ein "Wahrspruch" im Beweisverfahren ist bei widersprechenden Aussagen nicht zu erlangen. Freilich haben sich gegen die Stimmeneinhelligkeit in England gewichtige Stimmen erhoben; überwiegend ist jedoch die öffentliche Meinung der Einstimmigkeit günstig, indem man darin eine Garantie gründlicher Beratung erblickt. 4) Sobald ein Angeklagter des Verbrechens geständig ist, bleibt für die Beweisjury kein Platz mehr. Nur der leugnende Angeklagte hatte einen Anspruch auf das Zeugnis der Jury. In Erinnerung an diese anfängliche Einrichtung wird auch heute der Angeklagte vor dem Beginn der Verhandlung gefragt, ob er sich schuldig bekenne (guilty) oder nicht schuldig (not guilty). Geschieht ersteres, so wird ohne Mitwirkung der Geschwornen die Verurteilung vom Richter ausgesprochen. 5) Auch darin ist beim englischen S. die mittelalterliche Sitte festgehalten, daß der Angeklagte seinerseits vor einem Gericht, das bestimmt war, ihm als Entlastungszeugnis zu dienen, nicht genötigt werden kann, sich einem Verhör zu unterwerfen. Dem englischen Strafprozeß fehlt daher auch diese auf dem Kontinent überall wesentliche Prozedur der Wahrheitsermittelung.

In manchen wesentlichen Stücken abweichend gestaltet sich das S. in Schottland, Irland und Nordamerika. In Frankreich stand das S. unter den Forderungen der ersten französischen Revolution in erster Linie. Die Nationalversammlung beantragte 1789 die Einführung des Schwurgerichts und veranlaßte damit zuerst das Gesetz vom 16. Aug. 1790 und das Gesetz vom 29. Sept. 1791. Zu einer gedeihlichen Wirksamkeit bot indessen die französische Revolutionszeit den Geschwornen keinen Raum. An Stelle des schwerfälligen Apparats setzte man für die wichtigsten, insbesondere politischen, Vergehen die Revolutionstribunale und militärischen Ausnahmegerichte. Bei der Veränderung der französischen Justizverhältnisse war es lange Zeit hindurch zweifelhaft, ob das S. in der Strafgerichtsverfassung einen Platz finden werde. Napoleon I. selbst war dem Schwurgerichte sehr abgeneigt. Schließlich behielten jedoch in den Vorberatungen der 1808 ergangenen französischen Strafprozeßordnung (Code d'instruction criminelle) die Anhänger des Schwurgerichts die Oberhand, nachdem sie Napoleon davon überzeugt hatten, daß die Geschwornen, denen man die Beurteilung der schweren politischen Verbrechen entziehen könne, nicht nur ungefährlich sein würden, sondern auch dem Einfluß der Regierung bei richtiger Handhabung der administrativen Mittel zugänglich seien. Namentlich ergab sich ein starkes Element der Beeinflussung durch den Zusammenhang der in England fehlenden, in Frankreich völlig abhängigen Anklagebehörde mit den Verwaltungsstellen der Polizei. Während man ferner in England an dem Erfordernis der Stimmeneinhelligkeit der Verdikte festhielt, schwankte unter den verschiedenen Regierungen in Frankreich das zu einer Verurteilung des Angeklagten erforderliche Stimmenverhältnis zwischen größern und kleinern Majoritäten, so daß die auf größere Machtentfaltung bedachten Regierungen sich an einfachen Majoritäten von sieben zu fünf genügen ließen. Der Vorsitzende des Schwurgerichtshofs erhielt zudem ein weitgehendes Ermessen in der Leitung der Schwurgerichtsverhandlungen, in der Behandlung und Vorführung der Beweismittel, in der Begünstigung der Anklagebehörde auf Kosten der Verteidigung, in der Einrichtung seines Schlußvortrags (sogen. Resümee) an die Geschwornen, in dem er, nicht gehindert durch irgend welche Rücksichten und nicht gehemmt durch Rechtsmittel, seiner persönlichen Auffassung über Schuld oder Unschuld als Vormund der Geschwornen Ausdruck geben konnte. Die Gesamtheit dieser weitgehenden Rechte bezeichnete man als diskretionäre Gewalt (pouvoir discrétionnaire). Das Resümee ist übrigens in neuester Zeit in Frankreich ebenso wie in Deutschland abgeschafft. Was endlich die Zuständigkeit der Schwurgerichte in Frankreich anbelangt, so war diese nach dem Grundsatz der Dreiteilung (Verbrechen, Vergehen, Übertretungen) geregelt. Die schwersten Fälle der sogen. Verbrechen im engern Sinn (crimes), die eine entehrende oder peinliche Strafe nach sich ziehen können, sind den Schwurgerichten zugewiesen, obwohl bei der richtigen Ausübung der Strafgewalt nicht sowohl die Schwere der Strafe als vielmehr die eigentümliche Natur des Thatbestandes als entscheidend ins Gewicht fallen sollte. In einem Punkt geht freilich die Funktion der französischen Geschwornen über die in England üblichen Grenzen hinaus. Die Geschwornen können nämlich das Vorhandensein mildernder Umstände (circonstances atténuantes) in ihrem Schuldspruch erklären und damit einen bedeutenden Einfluß auf das Strafmaß ausüben.

In dieser französischen Gestalt gewann sich das S. nach der Abtretung ehemals französischer Landesteile auch in Deutschland viele Freunde, vornehmlich in West- und Süddeutschland. Namentlich fand das S. Verteidiger unter den Germanisten, die darin Anknüpfungspunkte an die alte deutsche Gerichtsverfassung erkennen wollten. Daher erklärt es sich, daß der Germanistenkongreß 1847 in Lübeck sich für die Einführung des Schwurgerichts aussprach. Übrigens wurden die Schwurgerichte in Rheinpreußen während der Zwischenzeit von 1815 bis 1848 in manchen Punkten abgeändert. Im großen und ganzen war aber die