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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Schwurgericht

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Schwurgericht (in Deutschland).

öffentliche Meinung in der Rheinprovinz dem S. entschieden günstig. Entscheidend für die allgemeine Einführung der Schwurgerichte in den verschiedenen deutschen Staaten war jedoch erst die politische Bewegung von 1848. Als dann später die Vorbereitungen zur einheitlichen Ordnung des Strafprozeßrechts für das Deutsche Reich in Angriff genommen wurden, stellte man das S. noch einmal in Frage. Das preußische Justizministerium wünschte die Ersetzung der Schwurgerichte durch sogen. Schöffengerichte, und der erste Entwurf zur deutschen Strafprozeßordnung war auf das Schöffengericht basiert. Auch die Stimmen unter den Theoretikern waren geteilt. Eine Anzahl hervorragender Männer (Schwarze, Zachariä, Meyer) wirkte für die Verallgemeinerung der Schöffen-, andre (Mittermaier, Gneist, Glaser, Wahlberg) verteidigten mit Geschick, Überzeugung und Eifer die Institution der Schwurgerichte. In Süddeutschland war das S. jedenfalls so volkstümlich geworden, daß man es vorzog, den Plan einer allgemeinen Durchführung des Schöffeninstituts rechtzeitig aufzugeben und das S. lieber beizubehalten, als sich im Reichstag oder schon im Bundesrat einer Niederlage auszusetzen. In neuester Zeit macht sich in juristischen Kreisen wieder eine Strömung gegen die Schwurgerichte bemerklich. Der 18. deutsche Juristentag hielt zwar im Plenum an dem S. fest, erklärte dasselbe aber für einer Reform dringend bedürftig. Der Wert des Schwurgerichts ist von einer Reihe von Thatsachen und Umständen abhängig; es kann zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern ungleiche Resultate liefern. Die Verbreitung, die das S. innerhalb des letzten Jahrhunderts gefunden hat, läßt aber erkennen, daß ihm ein wertvoller Grundgedanke innewohnt. In der Strafrechtspflege kommt es nämlich darauf an, die Schuld eines Angeklagten zu ermitteln, indem man sein persönliches Verhältnis zum Strafgesetz feststellt. Trug der Angeklagte ein rechtswidriges Bewußtsein in sich? Erkannte er den Widerspruch, in dem die ihm zur Last gelegte Handlung gegenüber dem gesetzlichen Verbot stand? Diese Fragen vermag nach der herrschenden Ansicht ein tüchtiger Geschworner besser und richtiger zu beantworten als ein rechtsgelehrter Richter, der sich durch seinen Beruf daran gewöhnt hat, nach abstrakten Kategorien zu urteilen. Unsre Beurteilung der Menschen und unsre Einsicht in die Motive des menschlichen Handelns gehen überall von der innern Erfahrung unsres eignen Seelenlebens aus. Alle Psychologie beruht auf der Beobachtung zunächst des eignen Seelenlebens. Ebendeswegen geht der Richter, der das Schuldbewußtsein des Angeklagten an seinem Bildungsgrad zu messen pflegt, leichter irre als der Geschworne, der die laienhafte Auffassung des Strafgesetzes mit dem Angeklagten teilt. Der Vorzug der Geschwornen liegt also keineswegs, wie früher geglaubt wurde, in der richtigen Würdigung aller Thatfragen und Beweispunkte und noch viel weniger in dem bessern Verständnis oder der gerechtern Handhabung des Gesetzes, sondern hauptsächlich in der zuverlässigern Erkenntnis der subjektiven Schuldmomente, welche unter dem Titel der Zurechnungsfähigkeit, vornehmlich aber des rechtswidrigen Bewußtseins und der Fahrlässigkeit nicht sowohl durch scharfe juristische Deduktion als durch Festhaltung eines dem wirklichen Leben entnommenen Vergleichungspunktes ermittelt werden müssen. Auch aus dem Gesichtskreis der größern politischen Unabhängigkeit hat man das S. gepriesen oder angefochten. Im allgemeinen läßt sich nun zwar nicht nachweisen, daß Geschworne überall unabhängiger sind als Staatsrichter, wenn diesen alle Bürgschaften verfassungsmäßiger Unabhängigkeit geboten sind und die Regierung auch keine Mittel indirekter Beeinflussung zur Herbeiführung politischer Verurteilungen anzuwenden vermag. Jedenfalls ist aber das Vertrauen des Angeklagten zu der Unparteilichkeit eines Volksgerichts größer als zu derjenigen von Berufsrichtern, und dies ist in der That nicht der geringste Vorzug der schwurgerichtlichen Institution. Von der technischen Seite her ist gegen das S. eingewendet worden, daß eine sichere Trennung der Thatfrage von der Rechtsfrage und folgeweise die Abgrenzung der den Geschwornen zum Unterschied von dem Schwurgerichtshof zu stellenden Aufgabe mit Gewißheit nicht zu erreichen sei, daß die Fragestellung schwere Verwickelungen herbeiführe, und daß das Ansehen der Justiz durch die Häufigkeit der durch fehlerhafte Fragestellung verursachten Nichtigkeitsbeschwerden (Revisionen) beeinträchtigt werde. Daß dies Bedenken ein begründetes sei, läßt sich nicht in Abrede stellen. Die Teilung der Arbeit zwischen Geschwornen und Richter bedingt mancherlei Übelstände. Allein diese Mängel lassen sich nicht nur verringern, sondern sie treten auch im Vergleich zu den vielen Vorzügen der Schwurgerichtseinrichtungen zurück, sobald es darauf ankommt, Licht- und Schattenseiten richtig gegeneinander abzuschätzen.

Durch das deutsche Gerichtsverfassungsgesetz vom 27. Jan. 1877 sind dem S. alle eigentlichen Verbrechen (im Gegensatz zu den Vergehen und Übertretungen) überwiesen, soweit sie nicht, wie das gegen Kaiser oder Reich gerichtete Verbrechen des Hochverrats oder des Landesverrats, vor das Reichsgericht oder ausnahmsweise vor die landgerichtlichen Strafkammern gehören. Die politischen und Preßvergehen, welche die belgische Gesetzgebung den Geschwornen zuweist, gehören nicht vor die Schwurgerichte; doch ist es in denjenigen Staaten, in denen die Geschwornen vor 1. Okt. 1879 für Preßprozesse zuständig waren, bei den bisherigen Bestimmungen der Landesgesetzgebung geblieben, nämlich in Baden, Bayern, Oldenburg und Württemberg. Auch in Österreich wurden 1869 die Preßsachen den Geschwornen überwiesen, obgleich dort angesichts des Kampfes zwischen widerstrebenden Nationalitäten die Bedingungen eines gedeihlichen Wirkens weitaus weniger günstig lagen als in Deutschland. Nach dem Zeugnis eines der erfahrensten Kenner der Schwurgerichtseinrichtungen, Julius Glasers, des frühern österreichischen Justizministers, eignen sich Preßdelikte aus juristischen Gründen vorzugsweise für Schwurgerichte, und auch in Bayern hat sich dieser Ausspruch bewahrheitet. Nach dem deutschen Gerichtsverfassungsgesetz sind alljährlich die Urlisten in den Gemeinden aufzustellen, in welche die Namen aller zum Schwurgerichtsdienst verpflichteten und berechtigten Personen einzutragen, und die zum Zweck etwaniger Berichtigungen öffentlich bekannt zu machen sind. Die Regeln, welche für den Schöffengerichtsdienst gelten, beziehen sich auch auf das S. Gewisse Personen, die an sich befähigt und berechtigt sein würden, als Geschworne zu dienen, sind vom Gesetz ausdrücklich befreit, wesentlich mit Rücksicht auf die Bedürfnisse des Staatsdienstes (z. B. gewisse höhere Beamte, Militärpersonen, Schullehrer). Aus den Urlisten eines Amtsgerichtsbezirks ergibt sich dann im Weg der Sichtung die sogen. Vorschlagsliste (gleichfalls jährlich), bei deren Anfertigung gerichtliche Beamte mit der Verwaltung und unabhängigen Männern zusammenwirken. Aus den Vorschlagslisten der Amtsgerichte stellt dann das Landgericht die Jahreslisten der