Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

809

Seele - Seelenwanderung.

willkürlichen Bewegungen als bloße Reflexbewegungen) erwiesen sind, der Unterschied zwischen beseelten und seelenlosen Dingen fortbesteht (gegen den Mechanismus); 2) die Einheit des Bewußtseins ist eine Thatsache, die sich aus einem materiellen Substrat desselben als "Resultierende" nicht erklären läßt, da ihr zu dieser Vergleichung unter obiger Annahme der hauptsächlichste Vergleichungspunkt, ein gemeinschaftlicher Angriffspunkt der "Komponenten", fehlen würde (nach Lotze; gegen den Materialismus); 3) der ideale angebliche Träger sämtlicher Bewußtseinsphänomene, das Ich, ist selbst nichts weiter als ein Bewußtseinsphänomen (Ichvorstellung, Selbstbewußtsein), das zu seiner Existenz eines realen Trägers des Bewußtseins (einer S.) und der Wechselwirkung der innern Zustände desselben (der elementaren psychischen Vorgänge: Empfindungen etc.) bedarf (gegen den Idealismus). b) Als positive Gründe: 1) die Sinnesempfindungen (des Gesichts, Gehörs etc.) als intensive und die in den Sinnesnerven (des Auges, des Ohrs) vor sich gehenden Bewegungen als extensive Vorgänge sind untereinander (ihrem Inhalt nach) völlig unvergleichbar; 2) dieselben korrespondieren einander zwar, so daß dem psychischen Vorgang (Empfindung) ein gewisser physischer (Bewegung, Nervenreiz) entspricht; aber sie sind weder identisch (Empfindung = Bewegung) noch verschiedene "Seiten" eines Dritten und lassen sich daher auch nicht auf ein und dasselbe Substrat zurückführen; 3) die Einheit des Bewußtseins ist eine Thatsache, welche nur unter Annahme eines atomistisch beschaffenen Seelenwesens (Seelenatom, Monade, einfaches Reale) begreiflich wird. Die Verwertung des auf diesem Wege gewonnenen Begriffs der S., um die erfahrungsmäßig gegebenen Bewußtseinsphänomene zu erklären und allgemein gültigen Gesetzen zu unterwerfen, ist Sache der Psychologie (s. d.). Vgl. E. Kuhn, Die Vorstellungen von S. und Geist in der Geschichte der Kulturvölker (Berl. 1872); Flügel, Die Seelenfrage (Köthen 1878); Witte, Das Wesen der S. (Halle 1888).

Seele, die Bohrung des Rohrs der Feuerwaffen (s. Geschütz und Handfeuerwaffen). Die Bezeichnung stammt von den Chinesen, welche die in dem Satz eines Schwärmers hergestellte Höhlung S. nannten, weil die dadurch entstandene Rakete Bewegung, gleichsam Leben, erhalten hatte. - Bei Streichinstrumenten das Stäbchen, welches den Boden mit der Decke verbindet.

Seeleim, s. Kitt.

Seelenblindheit, ein durch Zerstörung gewisser Gehirnteile hervorgerufener Zustand, bei welchem der Patient die Erinnerungsbilder früherer Gesichtswahrnehmungen verloren hat, mithin das, was er sieht, nicht erkennt.

Seelenheilkunde, s. Psychiatrie.

Seelenholz, s. Lonicera.

Seelenlehre, s. Psychologie.

Seelenmesse, s. Requiem.

Seelenstörungen, s. v. w. Geisteskrankheiten (s. d.).

Seelenverkäufer (Zettelverkäufer), in Holland Personen, welche Matrosen oder Soldaten zum Dienst für die Kolonien anwarben, sie bis zur Abfahrt der Schiffe unterhielten und dann einen Schuldbrief (Transportzettel) auf 150 Gulden bekamen, welche, wenn der Verkaufte am Leben blieb, diesem vom Lohn abgezogen und dem S. ausgezahlt wurden. Diese Transportzettel pflegten die S. an Kapitalisten für einen niedrigern Preis abzusetzen, wogegen diese das Risiko des möglichen Verlustes übernahmen. Allgemein nennt man so jemand, der einen Menschen für Geld in die Gewalt eines andern gibt, auch einen Sklavenhändler; ferner bezeichnet man damit ein sehr kleines, schlecht gebautes Schiff.

Seelenwanderung, die in den alten Religionslehren und Philosophemen vorkommende Ansicht, daß die Seele, bevor sie den menschlichen Körper belebe, schon in andern Körpern gewohnt habe (Präexistenz der Seele) und nach dem Tode des Menschen wiederum in einen neuen Organismus eingehe, um sich zu läutern und endlich zum Ziel der Vollkommenheit zu gelangen. Die Brahmanenlehre der alten Inder stellt die Wanderungen der Seele nach dem Tode durch böse und gutartige Tiere als Büßungen und Mittel der Läuterung dar. Die ägyptischen Priester nahmen an, daß die Seele nach dem Tode des Leibes durch alle Tiergattungen wandere, nach 3000 Jahren aber wieder in einen Menschenleib komme. Wahrscheinlich von den Ägyptern empfingen dann die Griechen den Glauben an die S., und zuerst sollen Pherekydes und sein Schüler Pythagoras dieselbe gelehrt haben; dieser dachte sich dieselbe als einen Läuterungsprozeß. Metempsychosis, Seelenwechsel, und Metensomatosis, Körperwechsel, sind die griechischen Bezeichnungen für S. Die spätern Pythagoreer lehrten, daß der Geist, von den Fesseln des Körpers befreit, in das Reich der Verstorbenen eingehe und nach längerm oder kürzerm Verweilen daselbst wieder andre menschliche oder tierische Körper belebe, bis er geläutert und würdig sei, zum Urquell des Lebens wieder zurückzukehren. Empedokles behauptete eine Wanderung der Seele selbst durch Pflanzenkörper. In den griechischen Mysterien lehrte man, daß die Seele bei ihrer Ankunft auf der Erde in eine Menge Gewänder (Leidenschaften und sinnliche Begierden) eingekleidet werde, die sie eins nach dem andern wieder abwerfen müsse, ehe sie zurückkehren könne. Als Führer der Seelen (Psychopompos) zu ihrer ursprünglichen Heimat erscheint Dionysos oder Bakchos, der sie von der Persephone aus dem Schattenreich, wo sie einer Läuterung unterworfen worden waren, wieder auf der Erde empfing, wo sie nun durch Erkenntnis und That die Heroenwürde erstrebten. Gelegenheit zur Reinigung boten die Mysterien. Platon spricht geradezu aus, daß die Seelen vor ihrem Erscheinen im Menschen schon einmal da gewesen seien und bei ihrem zweiten Kommen sich Körper aussuchten, die ihrer Beschaffenheit am angemessensten wären; so gehen Tyrannen in Wölfe oder Geier, Arbeitsame in Bienen oder Ameisen über. Bis zur völligen Rückkehr in den Schoß der Gottheit verfließt nach ihm ein Zeitraum von 10,000 Jahren. Die Neuplatoniker erweiterten diese mystischen Ansichten noch mehr; Plotin unterscheidet eine Wanderung der Seelen aus unsichtbaren ätherischen Körpern in irdische und eine Wanderung aus irdischen wieder in irdische. Aristoteles verwarf die S., weil sie voraussetze, daß die Seele sich zu bestimmten Körpern gleichgültig verhalte. Die Juden zur Zeit Christi glaubten ziemlich allgemein an die S. Die Talmudisten nahmen an, Gott habe nur eine bestimmte Anzahl von Judenseelen geschaffen, die daher immer wieder kämen, solange es Juden gebe, bisweilen auch zur Strafe in Tierkörper versetzt, am Tag der Auferstehung aber alle gereinigt seien und in den Leibern der Gerechten im Gelobten Land aufleben würden. In der christlichen Kirche lehrten nur die Gnostiker und Manichäer eine S. Vgl. J. G. ^[Johann Georg] Schlosser, Über die S. (Leipz. 1781); Conz, Schicksale der Seelenwanderungshypothese (Königsb. 1791).