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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Shakespeare

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Shakespeare (Lebensschicksale).

erste Kind dieser Ehe war ein Mädchen, Jane, welches 1558 getauft wurde. Mit 1577 indessen scheint ein sehr merklicher Rückgang im Wohlstand John Shakespeares eingetreten zu sein, da 1578 seine Farm als verpfändet bezeichnet wird. Die Verhältnisse wurden mit den nächsten Jahren immer dürftiger: wir sehen den Vater des großen Dichters nicht nur seines Postens als Alderman beraubt, er muß sogar ins Schuldgefängnis wandern, und nach Freilassung aus demselben 1592 heißt es (mit Bezug auf die Bestimmung des englischen Rechts, daß niemand in seinem Hause schuldenhalber verhaftet werden durfte), daß er nicht in die Kirche gekommen sei "aus Furcht vor einem Schuldprozeß".

Aus diesen Einzelheiten ergibt sich, daß gerade die reifere Jugendzeit unsers Dichters, vom 14. Lebensjahr an, unter den zerrütteten Vermögensverhältnissen der Eltern zu leiden gehabt haben wird: eine wohlabgeschlossene, gelehrte Schullaufbahn machte er schwerlich durch. Im elterlichen Haus konnte er ferner keine Förderung in dieser Beziehung finden, da auch seine Mutter, wie die meisten Frauen selbst der höhern Stände unter Elisabeth, nicht schreiben konnte. Jedenfalls aber hat der Knabe William in der "freien Gelehrtenschule" (free grammar-school) Stratfords unentgeltlichen Unterricht genossen. Wenn nun Ben Jonson in seinen "Unterhaltungen mit Drummond" sagt, S. habe wenig Latein und noch weniger Griechisch verstanden, so ist einmal der verstimmte, herabsetzende Charakter, der fast alle Äußerungen Jonsons in jenen Unterhaltungen kennzeichnet, ferner auch der Umstand zu erwägen, daß Jonson als gelehrter Kenner des Altertums einen sehr hohen Maßstab anlegte, um aus jenen Worten nicht fälschlicherweise eine Stütze für die früher so verbreitete Meinung von dem "ungelehrten" Dichter zu gewinnen. Wenn John Dryden (gest. 1700) und vor ihm John Milton dergleichen aussprachen und S. als den "von Natur gelehrten" ("naturally learned") bezeichneten, so kommt dies einerseits daher, daß sie, in engherziger Klassizität befangen, S. als den "kunst- und regellosen Naturdichter" anzusehen sich gewöhnten, und daß sie anderseits, wie Ben Jonson, ihren eignen Maßstab anlegten.

Gewiß hat S. bei seiner geistigen Begabung schnell genug Latein gelernt; er hat den lateinischen Tragiker Seneca wie die Komödiendichter Plautus und Terenz ohne Zweifel im Original gelesen. Außer dem Lateinischen hat er Französisch und wohl auch Italienisch verstanden, das damals in England und Frankreich ungleich mehr getrieben wurde als heutzutage. Dann ist wohl anzunehmen, daß S. ab und zu in Stratford auftretende Schauspielertruppen frühzeitig kennen gelernt und vielleicht nicht ohne Einfluß seiner häuslichen Verhältnisse gleichzeitig den Entschluß gefaßt hat, wie viele andre, als Schauspieler und Schauspielschreiber in London sein Glück zu versuchen. So ist der 20jährige S. 1584 höchst wahrscheinlich noch in seinem Geburtsort gewesen und hat wohl auch die im genannten Jahr dort spielenden Schauspieler der Königin sowie diejenigen der Grafen Worcester und Essex zu sehen Gelegenheit gehabt.

Höchst auffallend aber ist es, daß er, noch bevor er das 19. Lebensjahr vollendet hatte, sich mit der bereits 26jährigen Anna Hathaway verheiratete. Sechs Monate nach Schließung der Ehe, 26. Mai 1583, ward das erste Kind Shakespeares getauft. Von der Mutter wissen wir übrigens nur, daß sie die Tochter eines Freisassen war, und daß sie ihren Mann um sieben Jahre überlebt hat. Daß aber der junge S. ohne sein Weib Stratford verließ, spricht jedenfalls nicht von großer Zärtlichkeit der Ehe, ebensowenig der andre Umstand, daß er in seinem Testament ihr nur das "zweitbeste" Bett vermachte, während er das beste seiner Lieblingstochter Susanna zuwies. Übrigens wissen wir, daß S., der in London sehr bald zu großem Wohlstand gelangte, seine Familie in Stratford häufig besuchte, daß er endlich seine letzten Lebensjahre vollständig in seinem Geburtsort zubrachte.

Man hat nun wohl den Widerklang mancher trüben, ja selbstquälerischen Stimmung aus jenen jungen Jahren in den dem Geschmack der Zeit huldigenden, nach Art der italienischen Concetti Wortspiel und Gesuchtheit liebenden "Sonetten" Shakespeares entdecken wollen; indes ist es sehr bedenklich, jene durchaus lyrischen Produkte seines Geistes biographisch auszunutzen. Wann übrigens S. nach London gegangen, ist auch nicht mit annähernder Genauigkeit zu bestimmen; wir wissen nicht, ob er im März 1585, als ihm zu Stratford Zwillinge geboren wurden, noch dort verweilte.

In den Stratforder Aufenthalt aber würde noch die ebensoviel erwähnte wie wenig beglaubigte Wilddiebstahlsgeschichte und der Vorfall mit Sir Thomas Lucy zu setzen sein. Die Sache wird zuerst von dem oben erwähnten Biographen Shakespeares, Nicol. Rowe, erwähnt. Der junge S. soll nämlich besonders auf der Besitzung des Sir Thomas Lucy Wilddiebstahl verübt und, von diesem gerichtlich verfolgt, sich durch ein Spottgedicht auf Sir Thomas gerächt haben. Es dürfte aber nicht zu den sinnreichsten Einfällen Rowes gehören, wenn er hinzusetzt, daß jenes Spottgedicht Shakespeares erster poetischer Versuch gewesen. Und so wird denn auch von Malone, Knight u. a. die ganze Sache als unglaubwürdig dargestellt, während sich allerdings neuere Kritiker, wie Halliwell und R. Geneé, zu der entgegengesetzten Annahme neigen. Man beruft sich nämlich auf einen ältern Bericht über die Sache, der vom Pfarrer Davies aus dem Jahr 1690 herrührt. Indes beruht doch auch dieser Bericht sicherlich nur auf mündlicher Tradition; auch die viel citierte Stelle in den "Lustigen Weibern von Windsor" (I, 1), wo Falstaff klagt, daß Sir Lucy "seine Leute geprügelt und sein Wild erlegt habe", scheint uns ein dürftiger Beweis: wie kleinlich wäre diese Rache des damals auf der Höhe seines Ruhms stehenden Dichters!

Noch weniger aber als diese Wilddiebstahlsgeschichte verdienen allerhand Anekdoten über Shakespeares erstes Auftreten in London (das man ins Jahr 1586 zu setzen pflegt) eine eingehende Prüfung, wenngleich ein so ernsthafter Mann wie Sam. Johnson dergleichen glaubwürdig zu machen versucht hat. Anderseits läßt sich nichts dagegen einwenden, wenn Rowe sagt, daß S. nach seiner Ankunft in London einen niedern Rang eingenommen habe. Wenn man aber geglaubt hat, über das Emporkommen Shakespeares in London durch gewisse Dokumente einen Anhaltspunkt zu besitzen, so müssen dieselben nach Untersuchung gründlicher Forscher für unecht angesehen werden.

Wir meinen hiermit zunächst das Certifikat von 1589, in welchem Shakespeares Name in der Liste von 16 Schauspielern des Blackfriarstheaters enthalten ist (vgl. Collier, New facts regarding the life of S., 1835; dagegen Halliwell, The life of S., 1848, und Ingleby, Complete view of the S.-controversy, 1861, u. a.). Wir wissen nur, daß die Schauspieler von Blackfriars, die sich seit 1587 des Lord-Kanzlers Diener nannten, den berühmten Richard Burbage, Shakespeares Landsmann und nachmals genialen Darsteller Shakespearescher Rollen, zu den Ihrigen zählten.