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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Shakespeare

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Shakespeare (Gesamtausgaben, Übersetzungen).

in den Werken des Dichters statt wilder, fesselloser und völlig naturalistischer Phantastik die feinste künstlerische Organisation, die bis ins Einzelnste durchgeführte dramatische Architektonik zu finden sein sollte, für eine Zeitlang zu fast ausschließlicher Geltung. Erst ganz neuerdings ist auch dieses ästhetische Dogma wiederum von kompetenter Seite angefochten und, wie die mannigfache Zustimmung beweist, welche G. Rümelins bedeutsames Buch "Shakespearestudien" (Stuttg. 1866, 2. Aufl. 1874) gefunden hat, zum Wanken gebracht worden. Rümelin weist mit großem Scharfsinn und vielfach mit unzweifelhaftem Erfolg nach, daß die neuere Shakespearekritik, vorzüglich die deutsche, auf den Abweg überschwenglichen Idealisierens hinsichtlich des Kunstwerts der Dichtungen Shakespeares geraten ist.

Für den unbefangenen Beurteiler ergibt nun schon die Thatsache, daß eine so mannigfaltige Auffassung der Werke unsers Dichters von geistreichen und kundigen Männern vertreten worden ist, wie wunderbar reich der Genius sein muß, der sich so mannigfach be- und verurteilen, er- und verkennen hat lassen müssen. S. darf in der That wohl der reichste Dichtergeist, den die Geschichte der Vergangenheit aufweist, genannt werden. Es darf nicht mehr bezweifelt werden, daß in diesem Reichtum auch die Gabe höchster künstlerischer Schöpferkraft mitbegriffen war, nur daß man nicht vollendete Kunst in jede Szene, wenn möglich in jedes Wort der Dramen Shakespeares hineinkünsteln wolle, daß man den Dichter nicht mit einem bewußten ästhetischen Wollen und Vollbringen ausstaffiere, wo er das Höchste und Unübertreffliche nur in dem geheimnisvollen Zug des schöpferischen Instinkts gefunden hat.

S. besaß alle wesentlichen Eigenschaften des dramatischen Dichters und einzelne in einem so großen Maß wie kein andrer. Zunächst war ihm die Fähigkeit, Begebenheiten und Thatsachen aus dem überlieferten oder selbsterfundenen thatsächlichen Stoff zur lebendigen Handlung, die sich in unmittelbarer Gegenwart vor den Augen des Betrachters abspielt, umzuwandeln, in eminentestem Grad verliehen, nicht minder aber die Gabe, die eigne individuelle Denk- und Handlungsweise in die Gedanken und das Thun fremder Persönlichkeiten aufgehen zu lassen. Er hat gleichsam in allen Zungen geredet, welche sich in dem Durcheinander des menschlichen Lebens vernehmen lassen. Dabei war er in den Tiefen der Menschenseele zu Hause; ein Herzens- und Gedankenkündiger ohnegleichen, spricht er die Sprache aller Stände, aller Geschlechter, jedes Lebensalters mit wunderbarer psychologischer Wahrheit. Diese Begabung ersetzt den Mangel theoretischer Studien, welcher mehrere seiner Dramen besonders im Vergleich mit neuern (z. B. mit Schillers reifern) Bühnendichtungen nicht fehlerlos erscheinen läßt. Shakespeares Größe besteht also vor allem in seiner tiefen Erkenntnis des Welt- und Menschenwesens, in der wunderbar reichen Gedankenfülle, die er aus der Beobachtung des irdischen Treibens geschöpft, und in der sprachlichen Gewalt und Schönheit, mit der seine Gedanken aus seinen Werken zu uns reden.

Gesamtausgaben. Übersetzungen.

Bei Lebzeiten des Dichters erschien nur eine Anzahl seiner Dramen (im ganzen 22) in Einzeldrucken (Quartformat), von denen verschiedene neuerdings faksimiliert herausgegeben wurden, z. B. "Mittsommernachtstraum" 1600 (zweimal, beide Drucke reproduziert in Photolithographie, mit Einleitung von Ebsworth, Lond. 1880), "Hamlet" 1603 und 1604 (beide reproduziert mit Einleitung von Furnivall, das. 1880), "Die lustigen Weiber" 1602 (faksimiliert, das. 1880) u. a. Die älteste Gesamtausgabe der Dramen wurde 1623 von zwei Freunden des Dichters, Heminge und Condell, veranstaltet; sie erschien unter dem Titel: "Mr. William Shakespeare's comedies, histories and tragedies. Published according to the true original copies" u. enthält in einem Folioband die noch in den heutigen gewöhnlichen Sammlungen zu findenden 37 Stücke. Eine Faksimileausgabe derselben, herausgegeben von Staunton, erschien 1866. Drei weitere Folios (von 1632, 1664 u. 1685) folgten nach. Die spätern Herausgeber, wie Rowe (1709 u. 1714), Pope (1725), Theobald (1733), Warburton (1747) u. a., waren bestrebt, die zahlreichen Mängel und Inkorrektheiten des Textes jener alten Drucke zu beseitigen; aber die richtige, kritisch-philologische Methode in der Bearbeitung des Dichters ward hauptsächlich erst durch die Ausgaben von Johnson und Steevens (1773, 10 Bde.; 7. Ausg. 1821, 21 Bde.) und von Malone (1790, 11 Bde.; neu hrsg. von Boswell, 1821, 21 Bde.) begründet, welche in England geraume Zeit hindurch die beliebtesten waren. Unter der Menge von Ausgaben, welche das 19. Jahrh. gebracht hat, sind als die wertvollsten zu bezeichnen: die von Collier (Lond. 1842-44, 8 Bde.; 1858, 6 Bde.; in 1 Bd. 1853), von Hazlitt (1851, 4 Bde.; neue Ausg. 1860, 5 Bde.), von Knight (1857-63, 12 Bde.; 1875, 6 Bde.), von Dyce (5. Aufl. 1886, 10 Bde.), von Grant White (Boston 1857-65, 12 Bde.; 1885), von Staunton (neue Ausg., Lond. 1882, 10 Bde.), von Clark und Wright (Cambr. 1863-66, 9 Bde.), die Prachtausgabe von Halliwell (1852 ff., 20 Foliobände), "The Royal Shakspere" mit Einleitung und Biographie von Furnivall (Lond. 1880 ff.) und die "Variorum edition" von Furneß (Philad. 1871 ff.). Diesen englischen Editionen schließt sich die kritische, mit (deutschen) Anmerkungen versehene Ausgabe von Delius (5. Aufl., Elberf. 1882, 2 Bde.), von dem auch eine Ausgabe der "Pseudo-Shakespeareschen Dramen" (das. 1853, 3 Hefte) vorliegt, sowie die von Wagner und Pröscholdt besorgte (Hamb. 1879 ff.) würdig an. Kritische Ausgaben der "Sonnets" veröffentlichten Massey (2. Aufl., Lond. 1872) u. Dowden (das. 1881).

Die älteste deutsche Übersetzung der Werke Shakespeares ist die (in Prosa abgefaßte) von Wieland (Zür. 1762-66, 8 Bde.), welche 22 Stücke umfaßt und der nachfolgenden, verbessernden und ergänzenden Übertragung von Eschenburg (das. 1775-82, 13 Bde.; umgearbeitete Ausg., das. 1798-1806, 12 Bde.) zur Grundlage diente. Um jene Zeit brachte auch Schröder Bearbeitungen der Wieland-Eschenburgschen Übersetzungen auf die Bühne. Dann erschien 1797 bis 1801 in 8 Bänden, denen sich 1810 ein neunter anschloß, die Übersetzung einer Anzahl Shakespearescher Dramen von A. W. v. Schlegel, eine der größten Leistungen auf dem Gebiet der Übersetzungslitteratur. Den 17 darin enthaltenen Stücken ("Romeo", "Sommernachtstraum", "Julius Cäsar", "Was ihr wollt", "Sturm", "Hamlet", "Kaufmann von Venedig", "Wie es euch gefällt", die englischen Historien mit Ausnahme "Heinrichs VIII.") wurden dann in der bekannten und vielfach aufgelegten sogen. Schlegel-Tieckschen Ausgabe die (von Wolf v. Baudissin, Dorothea Tieck u. a. verfaßten und von L. Tieck redigierten) Übertragungen der übrigen Stücke der Folioausgabe von 1623 beigefügt (vgl. Bernays, Entstehungsgeschichte des Schlegelschen S., Leipz. 1872). Späterhin versuchten sich in der Übertragung der dramatischen Werke Shakespeares: Heinr. Voß und dessen Söhne (Leipz. 1818-29, 9 Bde.), Jos.