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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Sprache und Sprachwissenschaft

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Sprache und Sprachwissenschaft (Grammatik, Etymologie).

Kugel ist viereckig" grammatisch ganz richtig, aber logisch verkehrt ist. Hiernach hat es gewiß auch von allem Anfang an ein Denken ohne Sprechen gegeben. 2) Kinder und Naturmenschen bezeichnen viele Individuen oder Gegenstände dadurch, daß sie mit ihrer Stimme den Schall nachahmen, den sie als von denselben ausgehend wahrgenommen haben. Diese einfache und nächstliegende Art der Bezeichnung, die onomatopoetische, war ohne Zweifel in jeder Ursprache sehr häufig, wenn die Wau-wau-Theorie (so genannt von dem Namen Wau-wau des Hundes in der Kindersprache) auch nicht den Anspruch erheben kann, alle Wörter zu erklären. 3) Ausrufe und Schreie (Interjektionen) spielen selbst bei gebildeten und erwachsenen Menschen noch eine mehr oder weniger große Rolle, eine sicher viel größere in den Anfängen einer Sprache. Hierin liegt die Berechtigung der sogen. Ah-ah- oder Interjektionstheorie vom Ursprung der Sprache. 4) Hiernach sind wohl auch die ersten Wörter nichts als Reflexlaute gewesen, welche im Affekt hervorgebracht wurden, gerade wie die Zuckungen oder sonstigen unwillkürlichen Reflexbewegungen, die aus Gemütsbewegungen hervorgehen. Die Reflexlaute gingen ursprünglich mit den andern unwillkürlichen Gebärden Hand in Hand. Da die Gemütsbewegungen am leichtesten durch verschiedenerlei Geräusche verursacht wurden, so ahmte die menschliche Stimme mit Vorliebe diese Geräusche nach. 5) Erst in zweiter Linie wurden die Sprachlaute zugleich zu Mitteilungen verwendet, nachdem es wiederholt gelungen war, durch ihre Hervorbringung die Aufmerksamkeit der andern zu erregen. Es ging damit ähnlich wie mit der Gebärdensprache, die sich aus ursprünglichen Reflexbewegungen zu der ausgebildeten Zeichensprache entwickelt hat, die man z. B. bei den Indianern Nordamerikas findet. Auch die Schrift hat sich aus roher Ideenmalerei und Bilderschrift successive zu einem der vollkommensten Verständigungsmittel entwickelt. 6) Die ersten Sprachschöpfungen waren primitive Sätze, etwa wie die Ausrufe: "Diebe!" "Feuer!", und aus diesen chaotischen Äußerungen haben sich erst allmählich selbständige Wörter und Redeteile entwickelt.

Vgl. Herder, Über den Ursprung der Sprache (zuerst Berl. 1772); W. v. Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues (neu hrsg. mit einer Einleitung von Pott, das. 1876, 2 Bde.); Steinthal, Der Ursprung der Sprache im Zusammenhang mit den letzten Fragen alles Wissens (4. Aufl., das. 1888); Derselbe, Abriß der Sprachwissenschaft (2. Aufl., das. 1881, Bd. 1: "Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft"); J. Grimm, Über den Ursprung der Sprache (in "Kleinere Schriften", Bd. 1, das. 1864); Max Müller, Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache (deutsch von Böttger, 2. Aufl., Leipz. 1866-70, 2 Bde.); Renan, De l'origine du langage (4. Aufl., Par. 1863); Heyse, System der Sprachwissenschaft (Berl. 1856); Schleicher, Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft (3. Aufl., Weim. 1873); Wedgewood, On the origin of language (Lond. 1866); Whitney, Die Sprachwissenschaft (bearbeitet von Jolly, Münch. 1874); Bleek, Über den Ursprung der Sprache (Weim. 1868); L. Geiger, Ursprung und Entwickelung der menschlichen Sprache und Vernunft (Stuttg. 1869-72, 2 Bde.); Wackernagel, Über den Ursprung und die Entwickelung der Sprache (Basel 1872); Madvig, Kleine philologische Schriften (Leipz. 1875); Marty, Über den Ursprung der Sprache (Würzb. 1875); Noiré, Der Ursprung der Sprache (Mainz 1877); Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte (2. Aufl., Halle 1886). Weitere Litteratur S. 182.

Sprachwissenschaft.

Die Sprachwissenschaft oder Linguistik (auch allgemeine Grammatik genannt) ist als Wissenschaft erst ein Kind des 19. Jahrh. Denn die Grammatik der Griechen und Römer und die nicht minder bedeutenden grammatischen Forschungen der Inder und Araber waren schon durch ihre Beschränkung auf eine oder höchstens zwei Sprachen völlig ungeeignet, zu einer Einsicht in das Wesen und die Verwandtschaftsverhältnisse der Sprachen zu führen, und vom Mittelalter ab bis in die Neuzeit herein bildete besonders das Vorurteil, als sei das Hebräische die Ursprache der Menschheit, ein Hemmnis für den Fortschritt der Sprachforschung. Erst die Entdeckung der alten heiligen Sprache Indiens, des Sanskrit, gegen Ende des 18. Jahrh. und die Aufdeckung des Zusammenhangs, in dem es mit den meisten Kultursprachen Europas steht, gaben den Anstoß zu einer ausgedehntern Sprachvergleichung und damit zur Begründung einer wirklichen Wissenschaft von der Sprache, deren Lebensprinzip, wie das jeder Wissenschaft, die Vergleichung ist. Ihrer exakten, streng induktiven Methode wegen ist die Sprachwissenschaft mehrfach den Naturwissenschaften zugezählt worden; doch gehört sie ihres Objekts wegen entschieden zu den sogen. Geisteswissenschaften, da die Sprache kein Naturprodukt, sondern ein Erzeugnis des menschlichen Geistes ist. Auch waren die Begründer der Sprachwissenschaft durchweg Philologen. Durch die Forschungen Fr. Schlegels, Bopps und ihrer Nachfolger wurde der indogermanische Sprachstamm nachgewiesen und die zu ihm gehörigen Sprachfamilien festgestellt wie auch die vergleichende Grammatik der indogermanischen Sprachen begründet. Zugleich regten W. v. Humboldts und Potts weitgreifende Forschungen eingehende Untersuchungen sowohl auf andern, selbst den fernst liegenden Sprachgebieten als auf dem Gebiet der Sprachphilosophie an, und die historische Sprachforschung, von J. Grimm und W. Diez begründet, schuf durch exakte und gründliche Forschung in dem enger begrenzten Bereich einzelner Sprachfamilien die Methode der historischen Grammatik. Seitdem hat der Betrieb der Sprachwissenschaft in ihren drei Hauptrichtungen, der historischen, vergleichenden und philosophischen, in allen Ländern, namentlich aber in Deutschland, einen mächtigen Aufschwung genommen.

Die genaue Beobachtung des Lautwechsels, der sogen. Lautgesetze, bildet die Hauptgrundlage, auf der die bedeutenden Resultate der Sprachwissenschaft beruhen. Vor allem besitzen wir jetzt eine wissenschaftliche Etymologie, während früher nach dem Ausspruch des heil. Augustin die Ableitung der Wörter wie die Deutung der Träume ganz nach subjektiver Willkür betrieben und das berüchtigte Prinzip "lucus a non lucendo" nicht selten alles Ernstes angewendet wurde. Nicht minder haben auch alle Teile der Grammatik, die Laut-, Flexions- und Wortbildungslehre wie die Syntax und die Lehre von der Zusammensetzung, eine völlige Umgestaltung erfahren, der sich auch die Schulgrammatik nicht mehr entziehen kann, seitdem Curtius in seiner "Griechischen Schulgrammatik" (zuerst 1852) gezeigt hat, wie wichtig auch für den Schulbetrieb der Grammatik die Ergebnisse der vergleichenden Sprachforschung sich gestalten. Ferner ist über die Urgeschichte der Menschheit, besonders der indogermanischen Völker, ein un-^[folgende Seite]