Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Vernunftrecht

146

Vernunft - Vernunftrecht.

oder sittliche V.), Schönheit oder Häßlichkeit (eines Natur- oder Kunstgegenstandes; ästhetische V.) bestimmen zu lassen. In letzterer Bedeutung heißt derjenige vernünftig, dessen Verhalten im allgemeinen durch seine V., dessen Glauben insbesondere durch seine theoretische V. (wissenschaftlich begründete Überzeugung, Nationalität), dessen Wollen durch seine praktische V. (sittliches Vernunftgebot, Moralität) und dessen (künstlerisches) Schaffen durch seine ästhetische V. (ästhetisches Ideal, Genialität) ausschließlich bestimmt, also frei (autonom, selbstgesetzgebend), ist. V. im erstgenannten Sinn ist einem Gerichtshof zu vergleichen, welcher nach unparteiischem Zeugenverhör der für und widersprechenden Aussagen über Schuld oder Unschuld des Angeklagten sein Erkenntnis fällt, daher die V., welche bezüglich Wahrheit oder Falschheit, Löblichkeit oder Verwerflichkeit, Schönheit oder Häßlichkeit dasselbe thut, auch Erkenntnisvermögen genannt wird. Dieselbe setzt, da sie ihr Urteil immer aus Gründen ableitet, einerseits Verständnis (der Gründe), anderseits Verständigkeit (im Schließen), überhaupt Verstand (s. d.), wie dieser seinerseits einen Vorrat durch Sinn und Erfahrung gegebener Vorstellungen voraus. Der des Verstandesgebrauchs (zum Verstehen, wie der Blödsinnige; zum verständigen Denken, wie der Narr) gänzlich oder (wie der vom Rausche, Schlaf, Affekt übermannte) vorübergehend Beraubte ist auch der V. unfähig. Wie die Entscheidung des Gerichtshofs, hat jene der V. einen normativen (nach Kant regulativen) Charakter; dieselbe schreibt vor, was vernünftigerweise als wahr, gut und schön anerkannt, als solches geglaubt, gewollt und geschaffen werden soll. Wird bei der Begründung derselben nur auf die nächsten und nähern Gründe Bezug genommen, so heißt die V. reflektierend und ihr Verfahren (vernünftige) Überlegung (Räsonnement); wird dagegen bis zu den letzten, einer weitern Begründung weder fähigen (Prinzipien, Axiome) noch bedürftigen (Ideen, evidente Urteile) Gründen zurückgegangen, so heißt die V. spekulierend und ihr Verfahren (vernünftiges) Nachdenken (Philosophie). Letzteres, als vollkommenste Form der Begründung, wird wohl auch vorzugsweise V. und die Philosophie (s. d.) als Wissenschaft von den Prinzipien und Ideen vorzugsweise Vernunftwissenschaft genannt. Gegensatz der V. in diesem Sinn ist die Unvernunft, welche entweder (aus Unverstand) keinerlei Gründe vernimmt, oder (aus Unverständigkeit) auf keine solchen hört (grundlos urteilt); ferner die Widervernunft, welche ihr Urteil durch andre als sachliche Gründe (z. B. durch die Motive der Furcht, Hoffnung, Mode, des Zwanges, der Autorität etc.), und die Scheinvernunft, welche dasselbe durch falsche (d. h. den Schlußsatz nur scheinbar begründende) Gründe bestimmen läßt (Sophistik). Gegensatz der V. in der zweiten Bedeutung, bei welcher dieselbe mit der Freiheit (Autonomie, Selbstgesetzgebung) identisch erscheint, ist die Unmündigkeit, welche entweder, wie der seiner V. bleibend (wie der Wahnsinnige) oder vorübergehend (wie der Leidenschaftliche) Beraubte, keine (vernünftige) Einsicht besitzt, oder, wie die Willkür (transcendentale Freiheit), ihren Willen nicht durch Gründe bestimmen läßt (grundlos will); ferner die Unfreiheit (Heteronomie), welche ihr Wollen durch andre Gründe als durch das Vernunfturteil (durch Hoffnung auf Lohn, durch Furcht vor Strafe etc.), und die Scheinfreiheit, welche dasselbe durch das Urteil einer (sophistischen) Scheinvernunft bestimmen läßt. Insofern der Mensch beiderlei Arten der V. fähig ist, verdient er den Namen Vernunftwesen.

Vernunftrecht (Naturrecht, philosophisches Recht), der Inbegriff der Rechtsgrundsätze, welche durch Nachdenken als die der Rechtsidee entsprechenden gefunden werden. Im engern Sinn faßt man unter V. oder Naturrecht auch wohl diejenigen Rechte zusammen, welche dem Menschen als solchem und abgesehen von besondern staatlichen und gesellschaftlichen Zuständen zukommen und gewissermaßen angeboren sein sollen (s. Menschenrechte). Den Gegensatz zu diesem V. bildet das positive Recht der einzelnen Staaten. Dies allein als der Ausdruck des staatlichen Gesamtwillens, welchem sich der Einzelwille fügen muß, kann praktische Geltung beanspruchen, welche dem V. um des willen versagt werden muß, weil gerade auf dem rechtsphilosophischen Gebiet die Ansichten sehr weit auseinander gehen. Auf der andern Seite ist aber die Rechtsphilosophie, d. h. die philosophische Untersuchung über Begriff und Wesen von Recht und Rechtsverhältnis, als eine wichtige Grundlage der Rechtswissenschaft anzusehen, wie sie zugleich einen integrierenden und wichtigen Bestandteil der Philosophie überhaupt bildet. Denn wie es im allgemeinen die Aufgabe der letztern ist, aus den äußern, wechselnden Erscheinungen und Zuständen des menschlichen Lebens das diesen zu Grunde liegende Gesetz und ihren letzten Grund zu erforschen, so liegt es ihr auch ob, durch Feststellung der Idee des Rechts eine sichere Norm für die Beurteilung der bestehenden angeblichen Rechte und Rechtsordnung zu gewinnen. Auf diese Weise wird zugleich dem Recht eine tiefere Begründung gegeben und die Möglichkeit eröffnet zur Fortentwickelung der bestehenden Gesetzgebung im Geiste der Rechtsidee. Während das Altertum die geistvollen Ausführungen eines Platon und eines Aristoteles über den letzten Grund von Staat und Recht und über die idealen Zwecke der Staats- und Rechtsordnung aufzuweisen hat, ist im Mittelalter eine völlige Nichtbeachtung jener philosophischen Grundlage und ein starres Festhalten am Buchstaben des Gesetzes vorherrschend. Erst Hugo Grotius stellte den Grundsatz von der Vernunftmäßigkeit desjenigen Rechts, das aus der Geselligkeit der Menschennatur entspringt, und die Möglichkeit der Ableitung einer Rechtswissenschaft aus der Natur des Menschen (Naturrecht) auf, weshalb man ihn wohl den Vater des Vernunftrechts genannt hat. Ihm folgten Pufendorf, Thomasius, Locke, Wolf, Montesquieu, Rousseau und Kant, Fichte, deren Nachfolger, die sogen. Naturrechtslehrer (Rotteck u. a.), die Philosophie als die ausschließliche Grundlage der Rechtswissenschaft hinstellten oder doch das philosophische Moment in einseitiger Weise hervorhoben. Dies veranlaßte die Reaktion der sogen. historischen Schule, welche unter Hugos Führung mit der philosophischen den Kampf aufnahm und die Einseitigkeit der letztern mit einer ähnlichen auf der rechtshistorischen Grundlage erwiderte, bis besonders durch Savignys Wirken die gleichmäßige Bedeutung von Philosophie und Geschichte für die Rechtswissenschaft zur Anerkennung und Würdigung gelangte (s. Rechtswissenschaft). Vgl. Trendelenburg, Naturrecht (2. Aufl., Leipz. 1868); Stahl, Philosophie des Rechts (4. Aufl., Heidelb. 1870); Ahrens, Naturrecht (6. Aufl., Wien 1871, 2 Bde.); Röder, Grundzüge des Naturrechts (3. Aufl., Leipz. 1883); Lasson, Rechtsphilosophie (Berl. 1880); Dahn, Die Vernunft im Recht, Grundlagen der Rechtsphilosophie (das. 1879); v. Jhering, Der Kampf ums Recht (8. Aufl., Wien 1886); Derselbe, Der Zweck im Recht (2. Aufl., Leipz. 1884-86, 2 Bde.); Belime, Philosophie du droit (4. Aufl.,