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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Volksschule

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Volksschule (gegenwärtige Leistungen).

päischen Staaten in den beiden letzten Jahrzehnten erlassen worden, so in Großbritannien (England 1870, 1875 u. 1876, Schottland 1872, Irland 1877), Frankreich (21. März 1882), Italien (1877), Niederlande (1878), Belgien (1879 u. 1884). In den meisten dieser Gesetze ist der Grundsatz der allgemeinen Schulpflicht, wenn auch in verschiedener Begrenzung, angenommen.

In allen Staaten Europas ist gesetzlich anerkannt, daß die V., zunächst Anstalt der bürgerlichen Gemeinde oder besonderer Schulverbände, der Aufsicht und Leitung des Staats untersteht, welcher auch durch seine Seminare für die Heranbildung der Lehrer sorgt und den unbemittelten Schulverbänden durch Zuschüsse aus Staatsmitteln zu Hilfe kommt. Die konfessionelle Erziehung unter leitender Mitwirkung der betreffenden Kirchen ist dabei in Deutschland, Österreich-Ungarn und Skandinavien vom Staat verbürgt, auch wo in sogen. paritätischen Schulen, welche indes bisher eine verschwindende Minderheit bilden, die Kinder verschiedener Bekenntnisse als gleichberechtigt vereinigt sind. In andern Staaten, wie Großbritannien, Frankreich, Niederlande etc., wird dagegen die religiöse Bildung grundsätzlich der Familie und der Kirche überlassen. Die Gemeinden üben ihre Rechte in Schulangelegenheiten durch ein gewähltes Kollegium (Schulvorstand, Schuldeputation etc.) aus; der Staat führt seine Aufsicht durch Orts- und Kreisschulinspektoren und in höherer Instanz durch besondere Aufsichtsbehörden, in welchen neben den rechtskundigen auch schulkundige Räte Sitz und Stimme haben (Schulabteilung der Provinzialregierungen, Oberschulkollegium, selten noch die staatskirchlichen Konsistorien). Die Inspektoren waren früher in Deutschland fast ausschließlich Geistliche, nämlich die Ortspfarrer und Superintendenten (Dekane etc.) oder Erzpriester. Seit dem Gesetz vom 11. März 1872, welches die Aufsicht über das Schulwesen ausschließlich für Sache des Staats erklärt, hat man in Preußen begonnen, weltliche Inspektoren, besonders auch ständige Kreisschulinspektoren, zu bestellen. Die Zahl der letztern beläuft sich gegenwärtig in ganz Preußen auf etwa 240 gegen 700 geistliche Kreisschulinspektoren. Im Königreich Sachsen, in Österreich, Schweden und mehreren kleinern deutschen Staaten ist das Institut der weltlichen Schulaufsicht in der Kreisinstanz, in Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden, auch in den Vereinigten Staaten von Nordamerika ist die weltliche Schulaufsicht überhaupt unter Ausschluß jeder geistlichen Mitwirkung streng durchgeführt. Doch gibt es in allen diesen Ländern neben der öffentlichen, staatlichen V. noch ein mehr oder weniger umfangreiches privates, namentlich kirchliches Volksschulwesen. Ein vergleichendes Urteil über die Leistungen der V. bei den verschiedenen Völkern ist im Augenblick schwer, wenn nicht unmöglich zu fällen. Noch bis 1870 und vielleicht bis 1880 konnte man unbedenklich sagen, daß Deutschland mit dem germanischen Norden, der protestantischen Schweiz, den Niederlanden in dieser Hinsicht den ersten Rang behauptete. Auch ist anzunehmen, daß der Vorsprung von Menschenaltern, den Deutschland auf diesem Gebiet vor den übrigen Nachbarn voraus hatte, von diesen nicht sprungweise eingeholt werden kann. Es stehen ferner sowohl im romanischen Süden und Südwesten Europas als im slawischen Osten dem Wirken der V. noch so überwiegende Hindernisse entgegen, daß in diesen Ländern ein rascher und durchgreifender Fortschritt der Volksbildung nicht zu erwarten ist. Dagegen wird in England und Schottland wie in Frankreich mit solchem Nachdruck und mit so reichem Aufwand von Mitteln an der Hebung der V. gearbeitet, daß dort schon innerhalb der lebenden Generation eine wesentliche Verschiebung des allgemeinen Bildungsstandes nicht ausbleiben kann. Schon jetzt darf die Zahl der Analphabeten in diesen Staaten, die bei der Aushebung zum Heer oder bei der Eheschließung sich herausstellt, als bezeichnend für den gegenwärtigen Stand der V. nicht mehr angesehen werden. Als Unterrichtsfächer der V. gelten außer der Religionslehre, die wiederum in biblische Geschichte, Bibellesen, Katechismus, Kirchengeschichte und Kunde geistlicher Lieder sich gliedert, allgemein: Muttersprache (Schreiben, Lesen, Grundlagen der Sprachlehre), Rechnen und Elemente der Raumlehre, Naturkunde (Naturgeschichte und Naturlehre), Geographie, Geschichte (mit besonderer Rücksicht auf Vaterland und Heimat), Singen, Zeichnen; für die Knaben Turnen, für die Mädchen weibliche Handarbeiten. Auch für die Mädchen sucht man immer allgemeiner das Turnen einzuführen; doch beschränkt das Mädchenturnen bisher sich fast ganz auf städtische Schulen, in denen es nicht einmal allgemein durchgeführt ist. Handarbeit auch für Knaben ist in Finnland, Frankreich und Ungarn allgemein, in Österreich, Schweden, Italien und England vielfach eingeführt. Auch in Deutschland wird dafür eifrig gestrebt; aber die Schulverwaltungen haben bisher diesen Unterrichtszweig als solchen abgelehnt und die Förderung dieses unter Umständen gewiß sehr heilsamen Bildungsmittels den dafür zusammengetretenen Vereinen überlassen, die jedoch in mehreren Staaten (Königreich Sachsen, neuerdings auch Preußen) Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln beziehen. Eine zweite Sprache wird, abgesehen von Grenzgebieten und mehrsprachigen Staaten (Schweiz, Belgien, Ungarn etc.), nur in wenigen städtischen Volksschulen gelehrt, wie z. B. in Hamburg das Englische. In einigen Ländern sind mit den Schulen besondere Schulsparkassen oder Sammelstellen für öffentliche Sparkassen verbunden, namentlich in Frankreich, Belgien, England. In Deutschland ist auch diese Einrichtung als amtliche Schulsache nicht anerkannt und demgemäß nicht sehr verbreitet. Die Trennung der Geschlechter in der V. ist in den Ländern romanischer Zunge meist streng durchgeführt. In Deutschland, Skandinavien, England ist der gemeinsame Unterricht der Knaben und Mädchen auf dem Land überwiegend. Man verfährt nach dem Grundsatz (Preußen, allgemeine Verfügung vom 15. Okt. 1872): »Für mehrklassige Schulen ist rücksichtlich der obern Klassen Trennung der Geschlechter wünschenswert. Wo nur zwei Lehrer angestellt sind, ist eine Einrichtung mit zwei oder drei aufsteigenden Klassen derjenigen zweier, nach den Geschlechtern getrennter Klassen vorzuziehen.« Die städtische, mehrklassige V. geht vielfach über in die Form der Mittelschule (preußische Bezeichnung), Bürgerschule (Österreich) oder Sekundärschule (Schweiz), École moyenne (Belgien) oder École primaire supérieure (Frankreich), in der meist neben der Muttersprache noch eine fremde Sprache gelehrt und in der Mathematik, dem Realunterricht (Chemie neben Physik, erweitertes Geschichtspensum) und dem Zeichnen über das Ziel der einfachen V. hinausgegangen wird. Vgl. Schneider und v. Bremen, Das Volksschulwesen des preußischen Staats (Berl. 1886-87, 3 Bde.); Keller, Geschichte des preußischen Volksschulwesens (das. 1873); Heppe, Geschichte des deutschen Volksschulwesens (Gotha 1858-60, 5 Bde.); Sander, Lexikon der Pädagogik (2. Aufl., Bresl. 1889); Buisson, Dic-^[folgende Seite]