Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Wilhelm

634

Wilhelm (deutscher Kaiser).

konstitutionellen Verfassung, aber vorher für Unterdrückung des Aufstandes mit Waffengewalt. Da er überdies, wegen seiner ausgesprochenen Vorliebe für das Militärwesen, als die Hauptstütze der absolutistischen Tendenzen galt, gab sich gegen ihn eine solche Aufregung kund, daß man es für angemessen hielt, ihn für einige Zeit sich entfernen zu lassen. Der Prinz begab sich 22. März nach London, wo er mit dem Prinzen Albert, R. Peel, J. ^[John] Russell, Palmerston und andern Staatsmännern verkehrte und seine politischen Anschauungen klärte. An den deutschen Einheitsbestrebungen nahm er lebhaften Anteil und bewies ein klares, vorurteilsfreies Verständnis dafür. Anfang Juni kehrte er nach Berlin zurück. Zum Abgeordneten in die preußische Nationalversammlung gewählt, nahm er zwar das Mandat an, aber, nachdem er in einer kurzen Rede seine konstitutionellen Grundsätze dargelegt hatte, keinen weitern Anteil an den Verhandlungen. Am 8. Juni 1849 erhielt er den Oberbefehl über die zur Bewältigung der süddeutschen Revolution bestimmten Truppen und unterwarf, nachdem er in Mainz einem Attentat glücklich entgangen, in wenigen Wochen die aufständische Pfalz und Baden. Im Oktober d. J. zum Militärgouverneur am Rhein und in Westfalen ernannt, nahm er seinen Wohnsitz in Koblenz; 1854 ward er zugleich Generaloberst der Infanterie mit dem Rang eines Feldmarschalls und Gouverneur der Festung Mainz. Die früher dem Prinzen ungünstige Stimmung war infolge seiner Zurückhaltung von den Ausschweifungen der politischen und kirchlichen Reaktion und des Junkertums so sehr in das Gegenteil umgeschlagen, daß er, besonders seit den Verwickelungen mit Österreich und seit dem Krimkrieg, als Hauptvertreter der Machtstellung Preußens galt, und daß alle Hoffnungen der patriotischen und liberalen Partei sich ihm zuwandten, als er während der Krankheit des Königs 23. Okt. 1857 als dessen Stellvertreter und 7. Okt. 1858 als Regent an die Spitze der Regierung trat. Nachdem er 26. Okt. den Eid auf die Verfassung geleistet, berief er 5. Nov. das liberale Ministerium Hohenzollern (»neue Ära«) und legte 8. Nov. in einem Erlaß an dieses seine Regierungsgrundsätze und Ziele dar. Zwar betonte er, daß von einem Bruch mit der Vergangenheit nicht die Rede sein könne, erklärte sich aber entschieden gegen alle Scheinheiligkeit und Heuchelei; ebenso sprach er sich dagegen aus, daß Preußen sich in der auswärtigen Politik fremden Einflüssen hingebe, vielmehr müsse es durch eine weise Gesetzgebung, Hebung aller sittlichen Elemente und Ergreifung von Einigungsmomenten in Deutschland Eroberungen zu machen suchen. Diese Stellen fanden im Volk und bei dem neugewählten überwiegend liberalen Abgeordnetenhaus den meisten Beifall, da die kirchliche Reaktion und die russische Politik Friedrich Wilhelms IV. am meisten verstimmt hatten, und wurden fast allein beachtet; viel zu wenig dagegen die Worte des Prinzen, in denen er von der notwendigen Heeresreform und den dazu erforderlichen Geldmitteln sprach, da Preußens Heer mächtig und angesehen sein müsse, wenn Preußen seine Aufgabe erfüllen solle. Dies sah der Prinz in der That als seine Hauptaufgabe an, und der Verlauf der Ereignisse von 1859, wo die Mobilmachung auf große Schwierigkeiten stieß und viele Mängel im Heerwesen aufdeckte, konnte ihn nur darin bestärken. Leider konnte sich die Majorität des Abgeordnetenhauses nicht entschließen, die Mehrkosten der durchgreifenden Heeresreorganisation, welche 1860 vorgelegt wurde, im Vertrauen auf des Prinzen konstitutionelle und deutsch-nationale Gesinnung und Politik definitiv zu bewilligen. Voll Ungeduld wollte man erst thatsächliche Beweise einer energischen, erfolgreichen deutschen Politik sehen. Am 14. Juli 1861 machte der Student Oskar Becker in Baden-Baden sogar ein Attentat auf W., der nach Friedrich Wilhelms Tod (2. Jan. 1861) wirklich König geworden war, verwundete ihn aber nur leicht. Die Krönung (18. Okt. 1861), welche W. veranstaltete, um die von dem Parlament unabhängige Macht des Königtums zu betonen, verstärkte das Mißtrauen gegen die konstitutionellen Ansichten des Königs; die Neuwahlen 6. Dez. 1861 fielen fortschrittlich aus, und mit dem Rücktritt des Ministeriums der Neuen Ära (17. März 1862), das der König fallen ließ, weil es die gesetzliche Genehmigung der thatsächlich bereits durchgeführten Heeresreorganisation nicht erreichen konnte, begann der Verfassungskonflikt, in dem der König sein eigenstes Werk, die Reorganisation, mit Standhaftigkeit festhielt und für das Ministerium Bismarck so verhaßt es war, in seinen Konflikten mit dem Abgeordnetenhaus mit seiner ganzen königlichen Autorität, obwohl erfolglos, eintrat; ja, der König verlor selbst rasch seine frühere Popularität, wie sich besonders bei den 50jährigen Erinnerungsfesten an die Befreiungskriege und an die Vereinigung verschiedener Provinzen mit Preußen 1863-65 zeigte. Obwohl W. schwer darunter litt, daß ihm die Herzen des Volkes entfremdet wurden, blieb er doch in der Verteidigung der Rechte der Krone standhaft. Während unter diesen Umständen die Reformen im Innern völlig stockten, ja vielfach ein schroffes Polizeiregiment zur Herrschaft kam, verfolgte der König unter Bismarcks ebenso kühnem wie staatsklugem Beirat eine entschiedene Politik in der deutschen Frage. Da aber die damalige öffentliche Meinung den König und Bismarck völlig verkannte, so hielt man das Verhalten des Königs gegen den Fürstenkongreß 1863 und in der schleswig-holsteinischen Sache 1864 für bloße Spiegelfechterei und ließ sich nicht versöhnen. Um nun den Konflikt zu beenden, ohne die mit vieler Mühe vortrefflich durchgeführte Heeresreorganisation preisgeben zu müssen, brachte der König seine Legitimitätsansichten zum Opfer und ging, wiewohl widerstrebend, auf Bismarcks geniale Politik ein, welche 1866 zum Entscheidungskampf mit Österreich führte. In diesem übernahm der König selbst den Oberbefehl über das Heer und errang den glänzenden Sieg bei Königgrätz. Bei den Friedensverhandlungen verzichtete er nur ungern auf die Annexion Sachsens, um Bismarcks deutsche Einigungspläne nicht zu durchkreuzen, und bot dem Landtag durch das Indemnitätsgesetz die erste Hand zum Frieden. Dieselbe wurde freudig ergriffen und der Einklang zwischen Monarch und Volk wiederhergestellt. Die militärische Fürsorge des Königs hatte sich herrlich bewährt. Durch die Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 1. Juli 1867 ward W. Präsident desselben. Im Innern lenkte er mehr und mehr wieder in die liberale Bahn ein. Die verhaßtesten Minister der Konfliktsperiode wurden entlassen und machten Anhängern einer freisinnigen Reform Platz. Die Entwickelung des Norddeutschen Bundes wurde unterbrochen durch den Krieg mit Frankreich 1870, der W. und seine Schöpfung, das Heer, mit neuem, weit glänzenderm Ruhm bedecken sollte. W. übernahm wieder den Oberbefehl über die gesamte in Frankreich einrückende Armee, befehligte selbst bei Gravelotte und bei Sedan und leitete von Oktober 1870 bis März 1871 mit unermüdlicher Arbeitskraft von Versailles aus die militä-^[folgende Seite]